Cay Rademachers neuer Kriminalroman „Nacht der Ruinen“ spielt im März 1945 in Köln. Ein Gespräch über das Leben in einer zerstörten Stadt, die vermeintliche Stunde Null und Parallelen zur Gegenwart.
Autor Cay Rademacher über Köln in der NS-Zeit„Es ist heute derselbe Ton, dieselbe Aggressivität“

Köln im Jahr 1945. In dieser Zeit spielt Cay Rademachers neuer Roman „Nacht der Ruinen“
Copyright: imago/ZUMA Press
Herr Rademacher, Sie haben schon eine Trilogie über Hamburg in der Nachkriegszeit geschrieben. Nun widmen Sie sich in „Nacht der Ruinen“ Köln im März 1945. Was interessiert Sie so an dieser Zeit?
Diese Stunde Null, die keine war, ist eine sehr interessante Phase. Irgendwann bin ich auf den Fachaufsatz eines amerikanischen Historikers über gelynchte Piloten gestoßen. Das waren Bomber-Piloten, die abgeschossen worden waren, aber dank des Fallschirms überlebten. Mehr als 1000 von ihnen wurden von der Bevölkerung, der SS oder Gestapo gelyncht. Die Amerikaner haben die Täter unmittelbar nach Kriegsende verfolgt und auch Deutsche hingerichtet, denn das war natürlich ein Kriegsverbrechen. Darüber wollte ich eine Geschichte machen, weil das wenig bekannt ist.
Und wie kamen Sie auf Köln als Schauplatz?
Ich habe lange in Köln gelebt, mag die Stadt wahnsinnig gern, und hier gab es den Sonderfall, dass der Rhein für einen guten Monat die Grenze und die Front war. Andere deutsche Großstädte wurden komplett eingenommen. Da den Amerikanern aber die Hohenzollernbrücke vor der Nase wegsprengt wurde, war das rechtsrheinische Köln weiterhin Teil des Deutschen Reiches. Da stand die Wehrmacht und schoss ins Linksrheinische - und umgekehrt. Das war schon eine sehr bizarre Situation, die mich natürlich gereizt hat.
Obwohl der Begriff lange geläufig war, sagen Sie zurecht, das Kriegsende war keine Stunde Null.
Das konnte es auch nicht sein. Die Amerikaner hatten von allen Alliierten den stärksten Willen und die größten Illusionen, wirklich eine Stunde Null herbeizuführen. Der amerikanische Stadtkommandant wollte die Stadt „entlausen“, alle raustreiben und von vorne anfangen. Aber das funktionierte im Alltag überhaupt nicht. Man kann nicht alle Leute ihr ganzes Leben ins Gefängnis werfen, zumal die Gefängnisse ja auch zerbombt worden waren. Man kann nicht alle hinrichten. Irgendwie muss es weitergehen – zum Beispiel mit Ärzten, mit Verwaltungspersonal, mit Technikern. Und selbst die, die in der NS-Zeit keine überzeugten Nationalsozialisten waren, haben ja in irgendeiner Form mitgemacht. Jeder, der in Deutschland blieb, hat davon profitiert oder zumindest weggesehen. Es gibt niemanden, der komplett unschuldig war, außer vielleicht Menschen wie Irmgard Keun, die im Untergrund gelebt hatten. Aber alle anderen haben sich in irgendeiner Form schuldig gemacht. Man übernahm aber nicht nur Personal, sondern auch viele Pläne von der NSDAP.
Die Amerikaner hatten von allen Alliierten den stärksten Willen und die größten Illusionen, wirklich eine Stunde Null herbeizuführen
Welche?
Die NSDAP hatte große Ziele, wie sie Köln umbauen wollte nach dem Krieg. Diese Stadtbaupläne wurden im Zeichen der autogerechten Stadt dann einfach übernommen. Da wurden dieselben Schneisen, die in der NS-Zeit geplant worden waren, nach dem Krieg tatsächlich gebaut und quer durch die Stadt geschlagen. Die Nord-Süd-Fahrt ist ein Beispiel. Es gab also auch eine technische Kontinuität, neben der ideologischen und den reinen Sachzwängen.
Und natürlich auch bei den Menschen. Im Roman begegnet uns Konrad Adenauer, der wie später auch in seiner Politik nach dem Motto handelt: Wir wissen, dass sich die Leute schuldig gemacht haben, aber wir müssen ja das Land wieder aufbauen.
Man kann das ja auch nachvollziehen. Beispiel Ärzte: Es gab Fleckfieber und Typhus - neben den normalen Verletzungen und Krankheiten. Man war für die Lebenden verantwortlich und nahm die, die man kriegte. Obwohl man den Alliierten zugutehalten muss, dass sie in den frühen Nachkriegszeiten versucht haben, die richtigen Nazis mindestens draußen zu halten, wenn nicht zu verurteilen. Die konnten nicht sofort wieder Karriere machen, das kam erst später, in den späten 40er und den 50er Jahren.

Cay Rademacher
Copyright: DuMont
Man kennt die Bilder der zerstörten Kölner Innenstadt. Aber wie muss man es sich vorstellen, in dieser Zeit in Köln zu leben?
Der große Teil der Innenstadt - vor allem auch die Wohnviertel - war zerstört. Am wenigsten bombardiert worden sind die guten Viertel am Rhein wie Bayenthal und Rodenkirchen. Die Villen standen zum großen Teil noch, normale Wohnhäuser, Geschäftshäuser, Bürogebäude waren hingegen zerstört. Die Leute haben in halben Wohnungen gelebt, in Kellern, später in Notunterkünften. Das kann man auf Fotos sehen. Was man nicht sehen kann, ist, dass sie kein Wasser, keinen Strom, kein Gas hatten. Sie mussten sich mit selbstgebauten Öfen behelfen, um zu heizen.
Es gab ja nicht mal mehr richtige Straßen, oder?
Ja, es gab keine oder nur noch wenige Straßen, die frei waren. Die meisten Fotos, die wir kennen, sind schon etwas nach Kriegsende aufgenommen worden, da sind die Straßen schon geräumt. Man hat alles zu Fuß gemacht, es gab kein Benzin, natürlich keine Autos, keine Straßenbahn. Die Leute hatten Krankheiten, die man sonst gar nicht mehr hatte und die mit schlechter Ernährung zusammenhängen. Am Anfang war die Essenversorgung allerdings noch gut, denn Deutschland hatte relativ viele Vorräte. Die Deutschen hatten 1945 mehr zu essen als zum Beispiel Polen, Dänen oder Franzosen. Die Versorgungslage wurde erst 1946/47 schlecht.
Wie haben Sie recherchiert, wie einzelne Straßen, Plätze oder Gebäude zu der Zeit aussahen?
Es sind Zeugnisse aus der Zeit erhalten, die niedergeschrieben wurden, Texte, Briefe, Erinnerungen. Die Amerikaner haben sehr viele sehr gute Fotoreporter in die Stadt gebracht. Die haben fast alles fotografiert. Es gibt Bilder vieler Viertel, Straßen, Plätze, Kirchen, aller größeren Gebäude. Außerdem haben die Engländer 1944 alle deutschen Großstädte mit Firmen und Firmennamen für ihre Bombercrews kartografiert. Es gibt einen Engländer, der hat die nachgedruckt. Die habe ich mir besorgt.
Was früher irgendwelche Braunhemden gemacht haben, macht man heute virtuell
Und wie sind Sie auf die Idee gekommen, Joe Salmon – oder Joseph Salomon - zur Hauptfigur zu machen? Er ist Kölner, der als Jude verfolgt wurde und Anfang 1939 nach Amerika emigrierte und nun mit dem US-Militär in seine Heimatstadt zurückkehrt.
Die Grundidee war, dass meine Hauptfigur ein Amerikaner sein muss, der ermittelt, weil ein amerikanischer Pilot gelyncht worden war. Außerdem gab es keine funktionierende deutsche Polizei. Ich wollte jemanden haben, der Köln kennt und ein sehr persönliches Motiv hat, in der Stadt zu suchen. Und mir war es wichtig, dass es jemand ist, der den NS-Alltag als Jude selbst erlebt hat: die Entrechtung, die Verfolgung, die schrittweise Eskalation. Mich hat immer interessiert, wie man eine Republik in eine Unrechtsstaat verwandelt.
Sehen Sie Parallelen zur heutigen politischen Lage in Deutschland und der Welt?
Die Parallelen sind in manchen Bereichen ja geradezu offensichtlich. Als ich angefangen habe, den Roman zu schreiben, war die politische Lage noch nicht so schlimm. Obwohl ich amerikanische Geschichte studiert habe, hätte ich etwa nicht gedacht, dass Trump wiedergewählt wird. Ich habe den Roman nicht als Warnung geschrieben, aber wenn man sich anschaut, was in den letzten Jahren auch in Deutschland alles passiert ist, ist es unfassbar. Es lohnt sich vor allem, die alten NS-Zeitungen und Plakate anzuschauen.
Warum?
Es ist derselbe Ton, dieselbe Aggressivität. Es geht darum, Menschen auszugrenzen. Man gibt Menschen zum Abschuss frei, bezeichnet sie als Schädlinge. Natürlich gibt es auch Unterschiede, Deutschland heute ist nicht Weimar, aber in der Rhetorik, in dem, was in den Köpfen vor sich geht, gibt es leider schon viele Parallelen. Und was früher irgendwelche Braunhemden gemacht haben, macht man heute virtuell. Es ist dieselbe Hemmungslosigkeit. Früher standen die Leute am Straßenrand und haben gegrinst, heute bringt das Klicks und Likes. Dieses Bedürfnis, Menschen vorzuführen, zu denunzieren, lächerlich zu machen ist wiedergekommen. Das gab es vielleicht immer, aber die Zurückhaltung fällt.
In Ihrem Roman begegnen den Lesern viele historische Figuren. Wie haben Sie sich denen angenähert?
Es ist nicht einfach, aber das macht Spaß. Konrad Adenauer, Irmgard Keun oder George Orwell haben sich ja selbst geäußert. Jeder von ihnen hat einen eigenen Ton und dem versuche ich mich anzunähern. Zudem verwende ich viele Zitate. Irmgard Keun sagt etwa zu Joe, das Beste an Köln sei, dass es zerstört ist. Das hat sie wirklich gesagt, natürlich in einem anderen Kontext, aber in der Zeit. So kann man versuchen, den Sound der Charaktere nachzuempfinden, wohl wissend, dass das nicht historisch ist.
Es kann ja schon deshalb nicht historisch sein, weil sie mit fiktiven Figuren interagieren.
Genau. Zur Sicherheit weise ich im Nachwort darauf hin, dass nicht alles genau so war wie in dem Buch. Es gibt Leser, die einem alles glauben, auch wenn historischer Roman drübersteht. Aber ein paar Sachen sind eben dichterische Freiheit.
Cay Rademacher, geboren 1965, ist Journalist und Schriftsteller. Er schreibt in mehrere Sprachen übersetzte Kriminalromane, etwa die erfolgreiche Provence-Serie um Capitaine Roger Blanc. Er lebt mit seiner Familie bei Salon-de-Provence.
„Nacht der Ruinen“ erscheint am 11. Februar bei DuMont (432 Seiten, 24 Euro). Die Buchpremiere am 12. Februar im Kölnischen Stadtmuseum ist ausverkauft. Wir verlosen drei signierte Exemplare des Romans. Wenn Sie gewinnen möchten, schicken Sie bitte bis 14. Februar eine Mail mit dem Betreff „Cay Rademacher“ und Ihrem Namen und Ihrer Adresse an ksta-kultur@kstamedien.de