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Bachs Weihnachtsoratorium in DüsseldorfChristus wird auf dem Esstisch geboren

Lesezeit 4 Minuten
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Szene mit Sarah Ferede (Maria), Florian Simson (Josef), Solistenensemble und Chor der Rheinoper  

Düsseldorf – „Herr, dein Mitleid und Erbarmen tröstet uns und macht uns frei“, lautet der Text des Duetts aus dem dritten Teil von Bachs Weihnachtsoratorium. Der Text ist von Haus aus eindeutig, bekommt aber einen „Shift“, wenn er in einer Bar von einem Pärchen gesungen wird, das sich angeschickert aneinander zu schaffen macht. Dann mutiert der biblische „Herr“ zum König Alkohol, rheinisch intoniert – wir befinden uns schließlich in Düsseldorf – zum Schabau.

Solche überraschenden Verfremdungseffekte sind der Clou des von Elisabeth Stöppler inszenierten chorischen Großwerks, das derzeit an der Rheinoper zu sehen ist. „Szenen einer schlaflosen Nacht“ heißt der Untertitel, und darum geht es: Das Geschehen der Heiligen Nacht wird umgetopft in eine Großstadt unserer Tage: Ein verzweifeltes Paar – Maria und Joseph – fällt am Weihnachtsabend in die Wohnung einer vierköpfigen Familie ein, die sich gerade zum Festschmaus niedergelassen hat. Die hochschwangere Maria wird auf den Tisch gelegt, wo sie ihr Kind zur Welt bringt. Blut fließt, das Baby schreit, und die Familie intoniert den Eingangschor „Jauchzet, frohlocket“.

Von einigen Kürzungen und Umstellungen abgesehen, erklingt in den folgenden gut drei Stunden das Weihnachtsoratorium in seiner textlich und musikalisch gewohnten Form. Allerdings werden die Gesangsnummern, ursprünglich nur vier Solisten vorbehalten, auf insgesamt 14 zeitgemäß rollengeschärfte Protagonisten verteilt und in 24 Handlungsszenen eben in völlig veränderte Kontexte und Situationen hineingestellt. Hinzu kommen neue von Hannah Dübgen verfasste Sprechtexte zumal des Joseph. Was passierte, wenn Christus in diesen unseren Tagen geboren würde? Das ist die experimentelle Rahmenfrage des Unternehmens.

Ganz neu ist es nicht: Die Theatertauglichkeit von Bachs Passionen wird schon seit langem ausprobiert, jetzt ist halt, ob des unleugbaren szenischen Potenzials, das Weihnachtsoratorium dran – nicht nur in Düsseldorf, sondern aktuell auch an den Opernhäusern in Gelsenkirchen und Kassel.

In die Weihnachtsdichtung zieht seit dem 19. Jahrhundert mehr und mehr ein ernüchterter Ton ein: Die Geschichte hat das Versprechen des Engelschors aus der Geburtsnacht – „Friede auf Erden“ – nicht eingelöst und es dadurch fragwürdig werden lassen. Um eine solche Dekonstruktion ist es aber der nach eigenen Angaben konfessionslosen Regisseurin nicht, oder jedenfalls nicht zentral, zu tun. Vielmehr geht es ihr darum, wie der Gegenwartsmensch angesichts der eigenen unabgegoltenen Erlösungsbedürftigkeit mit der Verkündigung eines Außerordentlichen umgeht.

Enthusiasten und Skeptiker, Gläubige und Zyniker, Begeisterte und Laue – sie alle versammelt der soziale Querschnitt, den Stöppler aufreißt: eine Alleinstehende, eine Barkeeperin, einen Arbeiter, einen Atheisten, einen Dandy, eine Geschäftsfrau, einen Musikstudenten – und einen „Anderen“, der erkennbar nicht dazugehört, von der Menge zunächst als neuer Messias gefeiert und dann aggressiv fallen gelassen wird, als er die Rolle nicht annehmen will: „Such ihn in deiner Brust“, antwortet er bachtextkonform auf die Frage nach dem „neugeborenen König“. Das alles ereignet sich auf einer Drehbühne (Annika Haller), die wechselnde Einblicke in die puppenhausartig nebeneinander gestellten Lebenssphären gestattet.

Langweilig ist der Abend nicht

Keine Frage: Langweilig wird der Abend ob der stets neuen Aspekte und Einfälle nicht. Das Erhabene und das Lächerliche liegen nah beieinander, ein wichtiges Thema sind – es ist aller Ehren wert – die Fetischisierungen und Mythenbildungen rund um das Heilige. Aber es kracht immer wieder massiv im narrativen Gebälk der teils gewaltsam aufgesetzten Gegenwartshandlung, nach deren Logik und Stringenz man besser nicht so genau fragt. Und worauf es alles am Ende hinaus soll, bleibt letztlich auch unklar. Hoch riskiert und nicht rundum gewonnen, könnte das Gesamturteil über die am Premierenabend fast hysterisch gefeierte Produktion lauten.

Nicht recht befriedigen konnte leider auch die musikalische Performance. An den aus dem Ensemble stammenden Solisten mit ihren individuellen Stimmdefiziten, an dem wie bei Verdi in der Stierkampfarena auftrumpfenden Chor, an den von Axel Kober dirigierten Düsseldorfer Symphonikern scheinen die Erkenntnisse und Usancen der Historischen Aufführungspraxis spurlos vorübergegangen zu sein. So wie in Düsseldorf kann man Bach heute eigentlich nicht mehr singen und spielen.

Weitere Aufführungen: 14., 19., 22., 26., 30. Dezember, 2., 5., 9. Januar