Bei „Body without Organs“, Richard Siegals neuester Arbeit im Depot des Schauspiels Köln, stimmt einfach alles. Warum nur verlängert die Stadt das Kollektiv nicht?
Ballet-of-Difference-PremiereWill Köln diese Top-Kompanie wirklich ziehen lassen?
Ein leerer Raum, das Licht flimmert fahl und lässt die Tänzerinnen und Tänzer blass und durchscheinend aussehen wie Geister. Das sind sie wohl: Die titelgebenden „Körper ohne Organe“. Die Formel stammt ursprünglich vom französischen Kult-Autor Antonin Artaud, der mit seinem so herrlich düster, anti-bürgerlich klingenden Schlagwort vom „Theater der Grausamkeit“ bis heute die Fantasien der Regisseure triggert. Und wie schon dieser Begriff, so lässt auch sein „Körper ohne Organe“ Raum für Interpretation.
Richard Siegal nun bezieht die Metapher nun wohl gar nicht mehr auf den Menschen, sondern auf den Korpus des Balletts: Ein eigentlich fixierter Organismus, in dessen Elementen er aber schon um die Jahrtausendwende als junger Tänzer herumwühlt, und dessen Architektur er als aktueller Meister-Dekonstruktivist umsortiert, entrümpelt, aufbricht und neu zusammensetzt. Zwischendurch macht er immer wieder völlig andere Arbeiten. So wandlungsfähig wie Siegal ist kaum ein Tanzkünstler. Aber immer wieder wird - zum Glück - doch der akademische Kanon von ihm seziert. Dann wird dem Body des Balletts sein barockes Mieder aufgeknöpft. Und dann zeigt Siegal eben, wie sexy, hip und athletisch die vermeintlich alte Klassik-Tante aussehen kann.
Hautfarbene Stoffe lassen die Tänzerinnen und Tänzer fast nackt erscheinen
Für den ersten fantastischen Trompe-l'oeil-Effekt sorgt Star-Designerin Flora Miranda: Hautfarbene Mesh-Stoffe lassen die elf Tänzerinnen und Tänzer fast nackt erscheinen, darüber zarte Netz- und Tüll-Gewebe, die den Körper in seiner Konkretheit verschleiern. Die Frauen auf Spitze, auch einer der Männer trägt den Schuh, der normales Gehen immer ein bisschen plump aussehen lässt, weil der Fuß nicht vollständig abrollen kann. Doch richtig eingesetzt, reicht nichts an seine zerbrechliche Eleganz heran. Und Richard Siegal weiß eben, wie man Spitzentanz zum Ereignis macht, und wie man auch den Ballerinos heutige Identitäten verpasst: zwischen maskuliner Sprungkraft und genderfluider Softness.
In diesen 60 Minuten Tanz stimmt alles. Die Gleichzeitigkeit von Alt und Neu, von historischer Strenge und zeitgenössischer Freiheit. Die Überraschungseffekte in den Bewegungsabläufen, auch die Musikalität der Choreografie, wenn Kompositionen von Jean-Philippe Rameau in den elektroakustischen Sound-Patterns von Lorenzo Bianchi Hoesch ins Trudeln geraten und von Lautsprecher zu Lautsprecher durch den Raum flirren.
Richard Siegal inszeniert in Mini-Soli jede Tänzerin, jeden Tänzer seines „Ballet of Difference“ als Star mit absoluter Kontrolle über Körper und Technik - zum Niederknien. Wie hat dieser Trupp das in gerade mal sechs Wochen Probenzeit seit der letzten Premiere nur hinbekommen?
Allerdings: Wie man hört, hat die Stadt Köln noch immer keinen Beschluss gefasst, ob und wie es mit dem Tanz weitergehen soll. Der Kompanie droht die Nicht-Verlängerung. Echt jetzt? Will man wirklich dieses experimentierfreudige Kollektiv ziehen lassen? So gesehen, liegt vielleicht eine bittere Ironie darin, dass die Tänzerinnen und Tänzer in diesem neuen brillanten Stück zuweilen schon geisterhaft körperlos aussehen. Ein Spuk, den man in schönster Erinnerung behalten wird.
Weitere Vorstellungen am 20., 21. und 22. im Depot 2 des Kölner Schauspiels