Jay Scheibs digital aufgerüstete Inszenierung von „Parsifal“ eröffnet die Bayreuther Festspiele. Die AR-Elemente überzeugen dabei aber nicht.
Bayreuther Festspiele eröffnetParsifal und Augmented-Reality werden keine Freunde
Digitale Spielereien sind im Theater längst nichts Neues mehr. Die Pandemie bescherte der Virtual Reality sogar einen kräftigen Schub. Die Bayreuther Festspiele setzen nun aber auf Augmented Reality, kurz AR, denn Regisseur Jay Scheib lässt mit AR-Brille nicht in eine vollständig virtuelle Welt eintauchen, sondern ergänzt das Bühnengeschehen mit assoziierenden Bilderfluten, die für die Brillenbesitzer den ganzen Raum füllen.
Keine Frage, Wagner hätte die Idee gefallen, seinen „Parsifal“ um eine digitale Dimension zu erweitern, die den Bühnenraum sprengt. Klingt ja auch revolutionär. Nicht gefallen hätte ihm sicherlich, dass das Publikum des „Bühnenweihfestspiels“ in seinem demokratisch konzipierten Festspielhaus in eine Zweiklassengesellschaft geteilt wird. Nämlich in die nur 330 Promis und Presseleute, die in den Genuss der teuren AR-Brillen kommen und den großen Rest derer, die eine herkömmliche, über weite Strecken eher statische Inszenierung erleben.
Bayreuther Festspiele setzen auf AR
Hat man nach Anpassung und Einweisung die schwere, sich erwärmende und schnell drückende Brille einmal auf der Nase, überlagern die unablässig fliegenden Objekte das Bühnengeschehen. Zuerst flattern nur ein paar weiße Gralstauben umher, dann beginnt das Trommelfeuer der fliegenden Objekte. Ein funkelnder Sternenhimmel, der sich in tanzende Glühwürmchen verwandelt, ist noch die ruhigere Variante, alsbald kommen die Objekte in hohem Tempo auf die Bebrillten zugeflogen, Insekten in bedrohlicher Größe, sausende Gesteinsbrocken und grob gepixelte Abstraktionen.
Es gibt auch ein paar herzige Lämmlein und einen Fuchs, der auf dem Orchestergraben zu sitzen scheint und herzhaft gähnt. Später bedient Regisseur Jay Scheib sich reichlich aus dem Werkzeugkasten der christlichen Ikonografie mit brennenden Dornbüschen, Schlangen der Sünde, Lilien der Unschuld, betenden Händen, dann erweist er auch den Albtraum-Welten des Hieronymus Bosch die Ehre und schließlich flattert Klimakrisen-Zivilisationsmüll durchs Bild wie Plastikflaschen, Batterien, leere Tüten.
Regisseur Jay Scheib greift bei Parsifal-Inszenierung zu einer Bilderflut
Jay Scheib, ausgewiesener AR-Spezialist am Massachusetts Institute of Technology (MIT) bombardiert das Brillen-Publikum in Bayreuth tatsächlich vier Stunden ohne jede Pause mit Bildern, die zumeist – der Fuchs ist die Ausnahme – bloß illustrieren, was auf der Bühne geschieht. Wenn Parsifal den Schwan erlegt, wird auf der Bühne mit einem Plüschtier hantiert, für die Brillenträger kreist ein riesiger Schwan am Himmel, aus dessen Pfeilwunde sich das Blut im hellen Strahl ergießt. Selten gelingt Scheib ein ironischer Kommentar wie etwa am Schluss des zweiten Aktes, wenn Klingsors Zaubergarten untergeht und die AR-Brille in einer kurzen Sequenz das Festspielhaus zusammenbrechen lässt.
Ansonsten ist die Bilderflut ermüdend redundant, zunehmend vorhersehbar, selten transzendierend und öfters schlicht banal. Obwohl das Konzept die Erlebniswelt ja eigentlich erweitern will, engt sie es tatsächlich ein. Denn man ist so mit dem Wirbel der Bilder beschäftigt, dass man das Geschehen auf der Bühne eher beiläufig wahrnimmt, zumal da auch noch mit einer Handkamera eine zweite optische Ebene zu bewältigen ist. Und man hört viel unkonzentrierter zu als ohne Brille.
Pablo Heras-Casado findet einen eigenen Wagner-Ton
Das ist unverzeihlich, denn Pablo Heras-Casado glückt im tückischen Festspielhaus-Graben ein sensationelles Bayreuth-Debüt: Ohne die üblichen Balance-Probleme gelingt ihm ein leichter, fast moussierender Wagner-Klang, herrlich transparent mit hörbaren Mittelstimmen und feinsten Farbverläufen, die Tempi sind flüssig, aber nie hastig, die gefürchteten Chorballungen – großartig wie immer der Festspielchor - perfekt verzahnt.
Heras-Casado findet einen eigenen Wagner-Ton, befreit von Pathos-Last und Klangschwere, dennoch dramatisch zugespitzt. Auch das Ensemble ist superb, herausragend Georg Zeppenfelds sonor-textverständlicher Gurnemanz, auch die beiden kurzfristigen Einspringer sind hinreißend: Andreas Schager hat die Titelpartie erst vor zwei Wochen von Joseph Calleja übernommen und singt mühelos mit Mut zu feinen Piani, auch Elīna Garanča hat bei ihrem Bayreuth-Debüt die Kundry kurzfristig übernommen und meistert die mörderische Partie mit imponierender Eleganz, ohne jeden Überdruck steigert sie sich zu brennender Intensität. Spätestens während ihres Dialogs mit Parsifal nimmt man die Brille ab, auch weil die Close-Ups der Handkamera eine Unmittelbarkeit erlauben, die den ganzen Brillen-Schnickschnack als überflüssige Spielerei entzaubern, das von echter Bühnen-Magie nichts weiß.
Für Parsifal braucht man keine AR-Brille
Die Inszenierung ohne Brille bleibt indes dünn: Die von Mimi Lien eingerichtete Bühne ist zunächst kahl wie zu Wielands Neu-Bayreuths Zeiten, ein Rundhorizont, eine Stahlsäule, schlanke Stelen, ein Wasserbecken für den siechen Amfortas (markant: Derek Welton) ein Neon-Strahlenkranz. Darin geschieht nicht viel, außer dass man Gurnemanz im Vorspiel mit einem Kundry-Double schmusen sieht.
Klingsors-Zaubergarten-Akt ist Barbie-bunt und nicht weiter bemerkenswert, stärker dann der letzte Akt, der in einer Zivilisationswüste mit panzerartigem Schürfgerät spielt. Am Ende erlöst Parsifal die Ritter, lässt den Gralskelch (oder was immer das ist?) auf dem Boden zerschellen, und rettet auch Kundry. Beide berühren sich im Wasser, um offenbar gemeinsam zu überleben. Dafür braucht man keine Brille.