Beethoven als Avantgarde-Komponist
„Das wird nicht der übliche Durchlauf mit unterschiedlichen Stücken, sondern ein unglaublich experimenteller Abend. Beethoven war ein Avantgarde-Komponist, und das wollen wir erlebbar machen.“ Kölns Generalmusikdirektor François-Xavier Roth, den der „Kölner Stadt-Anzeiger“ zum Gespräch im fernen Tokio erreicht, war schon mehr als eine Woche vor dem Ereignis Feuer und Flamme.
Beethoven? Na klar, im Jahr seines 250. Geburtstages sieht sich auch das Gürzenich-Orchester verpflichtet, dem in Bonn geborenen Genius zu huldigen. Aber es tut dies auf eine besondere Weise. Das nächste Abo-Konzert (9., 10., 11. Februar) heißt „Die neue Akademie – eine Beethoven-Séance“ und knüpft damit an jene Institution an, in deren Rahmen die Wiener Klassiker – auch Beethoven – ihre eigenen Werke vorzustellen pflegten: an die „große musikalische Akademie“ eben. So nannte sich an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert die Veranstaltung, die man als ungefähre Vorläuferin des heutigen Konzerts ansehen kann.
Ungefähre, weil die Usancen damals durchaus andere waren. Es gab keine Konzertsäle im engeren Sinn, Beethovens Akademie von 1808 etwa fand im Theater an der Wien statt. Das Programm war mit gut vier Stunden schier endlos, und bezahlen konnten die nach heutigem Maßstab exorbitanten Eintrittspreise nur Angehörige des Adels und bürgerliche Großverdiener.
Vor allem aber: Die Musik, die erklang, war zumeist neu, das „historische Konzert“, wie wir es kennen, entwickelte sich erst im 19. Jahrhundert. „Was war das für ein Gefühl“, fragt Patrick Hahn, Programmleiter des Gürzenich-Orchesters, „das die Leute hatten, wenn sie am selben Abend zum ersten Mal die fünfte und die sechste Sinfonie hörten?“
Hahn, der zusammen mit Roth und dem an der hiesigen Musikhochschule lehrenden französischen Pianisten Pierre-Laurent Aimard das Format entwickelte, will diese Situation absoluter Neu- und Fremdheit rekonstruieren und von jener „leicht musealen Beethoven-Reproduktion, wie sie auch dieses Jubiläumsjahr dominiert“, Abstand nehmen. Beethoven soll neu klingen, weil er in Neues eingebettet.
Es wird im Abo-Konzert also originalen Beethoven zu hören geben – Teile des fünften Klavierkonzerts, das Allegretto aus der siebten Sinfonie, die Einleitungen der ersten und vierten Sinfonie, die Mondscheinsonate, die Klaviersonate Opus 111, die Bagatellen Opus 119 –, dazu aber Musik der internationalen Moderne oder Avantgarde (John Cage, Helmut Lachenmann, Bernd Alois Zimmermann) und ganz frisch komponierte, somit zur Uraufführung anstehende Musik des Sciarrino-Schülers Francesco Filidei und der vielbeschäftigten deutschen Starkomponistin Isabel Mundry.
Filideis neues Klavierkonzert, mit dem er auf die imperiale Geste von Beethovens fünftem Konzert reagiert, trägt die Bezeichnung „Quasi una bagatella“ und schlägt damit den Bogen zu Beethovens Klaviersonaten opus 27 wie zu seinen drei Bagatellen-Zyklen. Mundry wiederum gestaltet in engem Austausch mit dem Regisseur und Choreografen Jörg Weinöhl und dem Lichtdesigner Bernd Purkrabek die Übergänge zwischen den Ausschnitten der Stücke, in denen, so Hahn, „die Musik sich gleichsam selbst zuhören soll“. Das Konzert hat zwar die übliche Pause in der Mitte, aber in beiden Teilen entsteht jeweils ein Kontinuum – Roth spricht von „Mosaik“ – mit fließenden Übergängen auch zwischen divergierenden Spielsituationen und „überraschenden Querbezügen“. Hahn ist sich sicher: „So etwas hat vor uns noch niemand gemacht.“
Pianist Aimard agiert als Solist in verschiedenen Konstellationen, stellt selbst so etwas wie den „fantasierenden Beethoven“ (Hahn) vor. Als Gründungsmitglied und ehemaliger Pianist des Ensemble Intercontemporain ist er in der zeitgenössischen Musik genauso zuhause wie als gefeierter Bach-, Mozart- und Beethoven-Interpret in der sogenannten klassischen.
Am Montagabend gibt es nach dem Konzert um 22.30 Uhr im Alten Wartesaal mit Aimard und Gürzenich-Musikern eine „Nacht-Akademie“ mit Erkundigungen zwischen Klassik und Moderne. An deren Ende wird, teilt Hahn mit, Beethovens Große Fuge Opus 133 stehen.