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„Black Lives Matter“Widerstand im Sommerkleid wird zur Ikone von Baton Rouge

Lesezeit 4 Minuten

BILDBETRACHTUNG Ieshia Evans beteiligt sich in Louisiana an den „Black Lives Matter“-Protesten und lässt sich verhaften.

Louisiana – Was geschieht, wenn eine unaufhaltsame Kraft auf ein unbewegliches Objekt trifft? Eine Frau steht in der Mitte des Airline Highway in Baton Rouge im US-Bundesstaat Louisiana. Hinter ihr ist das Hauptquartier des Baton Rouge Police Department zu sehen.

Die Frau bewegt sich nicht. Ihre Füße stehen wie fest verwachsen auf dem Asphalt, obwohl sie nur Ballerinas trägt. Ihre Haltung – im Profil, erhobenen Hauptes – strahlt eine geradezu statueske Ruhe aus. Nur der Wind bauscht ihr bodenlanges Sommerkleid. Ihre Arme hält sie angewinkelt vor dem Körper. In der linken Hand hält sie einen Schlüsselbund mit Anhänger. Vielleicht ist es der Autoschlüssel, vielleicht steht auf dem Anhänger ihr Name und ihre Adresse. In ihrer rechten Hand, ein Smartphone. Ob sie die beiden heranstürmenden Polizisten filmt?Der Fotograf Jonathan Bachman hat war im Auftrag der Nachrichtenagentur Reuters vor Ort. Er stand mit dem Rücken zum Geschehen, als er die Frau sagen hörte, dass sie gleich verhaftet werde. Der Fotograf drehte sich herum und erkannte sogleich den Symbolgehalt der Szene.

Sie tut ihre Pflicht

Das Ungleichgewicht zwischen der unbeweglichen Frau im rückenfreien Sommerkleid und den unaufhaltsamen Polizisten könnte nicht größer sein. Die Beamten der Louisiana State Police  sind zu zweit ausgerückt, um die stumm Protestierende zu verhaften. Sie tragen Waffen, Helme mit heruntergeklappten Visieren, gepanzerte Schutzkleidung und Sturmstiefel. In ihrem Rücken steht eine Phalanx weiterer Polizisten in Bereitschaft, auch sie allesamt  in „riot gear“. 

Sie tun hier nur ihre Pflicht. Die junge Frau – es handelt sich um die 28-jährige Krankenschwester Ieshia Evans – ist der Aufforderung der Polizei, die Straße nicht länger zu blockieren, nicht nachgekommen. Sie wird verhaftet werden und 24 Stunden lang in Polizeigewahrsam bleiben müssen. Als eine von 160 Demonstranten, die am vergangenen Wochenende in Baton Rouge verhaftet wurden.

Die Mutter eines fünfjährigen Sohnes war eigens aus Pennsylvania in den Süden gereist, um sich an den „Black Lives Matter“-Protesten zu beteiligen. Am 5. Juli hatten Polizisten in Louisianas Hauptstadt aus nächster Nähe einen 37 Jahre alten Schwarzen erschossen, der hier auf dem Parkplatz vor einem Geschäft CDs verkaufte. Zwei Polizisten hatten Alton Sterling bereits am Boden eines Parkplatzes fixiert, als sie das Feuer auf ihn eröffneten.

Tat mit Handy gefilmt

Ein Zeuge hielt die Tat mit seinem Handy im Video fest, das sich ebenso schnell im Netz verbreitete wie der Facebook-Livestream, mit dem Diamond Reynolds einen Tag später das Sterben ihres Verlobten in Echtzeit festhielt. Philando Castile war in Minnesota in eine Verkehrskontrolle geraten. Als er nach seinem Führerschein greifen wollte, schießt ein Polizist mehrmals durchs offene Wagenfenster. Castile verblutet noch vor Ort. Sein Verbrechen: „driving while black.“ So die sarkastische Bezeichnung für die Bedrohung durch die Staatsgewalt, der sich Afroamerikaner aussetzten, sobald sie sich  hinters Steuer setzen. 

Die Frau im Kleid hat die Ikonographie auf ihrer Seite

Die Berichte von tödlicher Polizeigewalt gegen Schwarze sind Legion. Auch Zeugen-Videos, die diese zeigen, gibt es immer wieder. Doch die Live-Übertragung tödlicher Schüsse auf einen unbewaffneten Autofahrer illustrierte auf denkbar drastische Weise die Hilflosigkeit, die schwarze Amerikaner im eigenen Land empfinden.

„Ich würde dich nicht vor der Polizei retten können“, hatte der schwarze Intellektuelle Ta-Nehisi Coates in einem offenen Brief an seinen Sohn geschrieben, „vor ihren Scheinwerfern, ihren Händen, ihren Schlagstöcken, ihren Pistolen.“ Auch Ieshia Evans sagte, dass die Angst um die Zukunft ihres Sohnes sie auf die Straße getrieben habe. Sie steht auf dem Airline Highway, weil sie nicht anders kann.

Doch spätestens, seit ein ehemaliger Soldat in Dallas während eines „Black Lives Matter“-Protestmarsches am 7. Juli gezielt auf weiße Polizisten schoss und fünf Beamte aus dem Hinterhalt tötete, haben auch diese Angst um ihre körperliche Unversehrtheit. Was die martialische Schutzkleidung erklärt, die angesichts der schutzlosen Demonstrantin so unangemessen wirkt.Auf jeden Fall hat sie die Ikonographie auf ihrer Seite: Die schwarze Frau, die sich in der schwedischen Stadt Borlange einer Parade von Neonazis mit gestreckter Faust entgegenstemmt. Die türkische Demonstrantin im leuchtend roten Kleid, die im Gezi-Park von Polizisten mit Tränengas besprüht wird. Ein einzelner Mann mit Einkaufstüten, der sich auf dem Tian’anmen-Platz in Peking vier heranrollenden Panzern entgegenstellt. Der schutzlose Einzelne gegen die uniformierte Übermacht. Das ist kein billiges Bild. Eventuell verliert der Einzelne dabei sein Leben. Aber schenkt allen anderen Einzelnen seine Würde.

Stummer Protest

Ieshia Evans ist es mit ihrem stummen Protest gelungen, das Bild der „Black Lives Matter“-Proteste nach den schrecklichen Schüssen von Dallas wieder zurechtzurücken. Schließlich ändert ein Einzeltäter mit mörderischen Absichten nichts am strukturellen Problem der Polizeigewalt gegen Schwarze. Die junge Krankenschwester hat noch einmal stumm Ta-Nehisi Coates’ Frage, wie man in den USA in einem schwarzen Körper leben soll, nachformuliert. Ihr Sommerkleid wirkt deeskalierend, mit ihrer stolzen Haltung stemmt sie sich der Zukunft entgegen, zeigt, wie man in einem schwarzen Körper in den USA leben können sollte.