Chaim Soutine gehört auf eine Stufe mit Picasso und den anderen Großen der Moderne. Warum ist die Soutine-Ausstellung in der Kunstsammlung NRW erst die zweite in Deutschland?
Chaim Soutine in DüsseldorfDiese Ausstellung ist ein Skandal und zugleich das reine Glück
Man wäre gerne dabei gewesen, als der Millionär Albert C. Barnes den Habenichts Chaim Soutine entdeckte, wie Kolumbus die neue Welt Amerika. Angeblich zog Barnes das verdreckte Porträt eines aus Farben gesprenkelten Konditors aus der Schmuddelecke einer Galerie hervor, er könnte es aber auch an der Wand eines Restaurants gesehen haben. In jeder Version der Legende rief er jedoch begeistert „Was für eine Birne!“ und entsandte seinen Chauffeur, den Schöpfer des Gemäldes aufzutreiben. Der fand Soutine auf einer Pariser Parkbank, stinkend und in zerrissenen Kleidern, und lieferte ihn im Badezimmer des vollends hingerissenen Sammlers ab.
Seit 1981 gab es keine deutsche Werkschau zu Chaim Soutine
Wie schön, dass Hungerleider weitgereisten Millionären ein solches Glück bereiten können – und es dazu lediglich das Genie eines ganzen Jahrhunderts braucht. Barnes kaufte im Winter 1922 mehr als 50 Bilder auf, das Beste, was Soutine, ein jüdischer Migrant in Paris, bis dahin gemalt und nicht gleich wieder zerstört hatte. Anschließend verschiffte er sie nach Amerika und verhalf so zwei Jahrzehnte später auch Jackson Pollock und Willem de Kooning zu einer Entdeckung, die als Abstrakter Expressionismus bald darauf die Welt eroberte.
Jetzt steht man in Düsseldorf ähnlich fassungslos wie die Amerikaner vor den Bildern Chaim Soutines und wundert sich, dass man einen der größten Maler der Moderne erst im Spätsommer des Jahres 2023 entdeckt. Natürlich ist Soutine auch in Deutschland kein Unbekannter. Aber der Ruhm, den er in Frankreich und den USA genießt, hat hierzulande seit 1945 lediglich für eine große Soutine-Werkschau gereicht – 1981 im Westfälischen Landesmuseum Münster. Im Grunde ist es ein Skandal. Und doch empfindet man, während man in der Kunstsammlung NRW von Bild zu Bild schwebt, nichts als Dankbarkeit für dieses späte Glück.
Susanne Meyer-Büser, die Kuratorin, hat die frühesten Bilder an den Anfang der Ausstellung gehängt. Soutine malte sie in Céret, einem französischen Künstlerdorf, wohin ihn sein Galerist verschickt hatte, um ihm Zeit zum Arbeiten zu geben, und vielleicht auch, um Ruhe vor dem schwierigen Genie zu haben. Hier übersetzte Soutine, als Sohn eines jüdischen Schneiders mittellos und kaum erwachsen 1913 nach Paris gekommen, die Moderne in seine eigene, wilde Sprache. Seine Welt löst sich in Farben auf, wie schon bei Van Gogh, Picasso und den Fauvisten, doch ein Wandersmann klebt bei ihm wie frisch plattgefahren auf dem Weg. Die Sardinen auf seinem Stilllebenteller schnappen noch nach Luft und der Hals einer Violine ist gebogen wie bei einem Schwan.
In Céret malte Soutine, wer oder was nichts Besseres zu tun hatte: den „Dorftrottel“ vor kardinalsrotem Hintergrund, Platanen, die von Farbwirbeln entwurzelt werden, Häuser, die sich im Wind biegen wie Schilf. Seine Pinselstriche züngeln wie Feuer, diese Bilder sind einerseits durch und durch französisch und doch nicht von dieser Welt. Der Sturm, der durch sie weht, lässt nichts mehr, wie es war, und trägt uns bis vor die Paradiespforte der reinen Malerei.
Chaim Soutine war einer der großen Koloristen der Moderne
Wie bei allen großen Künstlern lässt sich das Wunder dieser Bilder im Grunde nicht erklären. Auch andere Maler zertrümmerten die Formen, gaben Landschaften, Stillleben und Tierleibern ein modernes Kleid und entdeckten in grotesken Gestalten die stolze Melancholie der „kleinen Leute“. Aber Soutine setzte die Farben (wie zuvor Cézanne oder Picasso) so nebeneinander, dass sie das Chaos, das sie stiften, zugleich zu einer Welt verbinden, in der alles eine geheime Ordnung zu haben scheint.
Gerade auf seinen Tierbildern erweist sich Soutine als einer der großen Koloristen der Moderne. Seine gehäuteten Rinderhälften sind so tiefrot und verkrustet, als sei das Blut in diesem Augenblick geronnen, und sein toter Hase vor grünem Fensterladen franst nicht nur an den Rändern, sondern in jeder Faser aus – als würde das Geisterreich an ihm ziehen. Es ist diese Unmittelbarkeit, die einem bei Soutine den Atem raubt, die Gabe, uns glauben zu lassen, die Malerei müsse durch die Wirklichkeit hindurchsehen, um dahinter das wahre Leben zu entdecken.
In Düsseldorf werden etwa 60 Gemälde gezeigt, vor allem aus den Jahren 1918 bis 1928. Obwohl dies chronologisch betrachtet nur der halbe Soutine ist, sollte ihn die Ausstellung endlich auch in Deutschland über den Status eines großen Außenseiters der Moderne erheben. Sehr prominent sind seine Porträts vertreten, die vor allem Mitglieder der „dienenden Klasse“ zeigen und darunter besonders häufig Pagen und Zimmermädchen, Köche und Bäcker, Chorknaben und Messdiener. Sie alle tragen die Male ihrer Existenz, Soutine macht sie unverwechselbar, indem er sie scheinbar entstellt. Offenkundig machte das Leiden für ihn den Menschen und das Leben aus.
Auch Chaim Soutines Glück war nicht von Dauer. Während der deutschen Besatzung lebte er im Untergrund, um der Verfolgung als Jude zu entgehen, seine schlechte Gesundheit verschlechterte sich dadurch dramatisch. Als sein Magengeschwür operiert werden musste, wagte er die gefährliche Reise vom Land in ein Pariser Krankenhaus. Bei seiner Ankunft war alles bereits zu spät. Am 9. August 1943 starb Soutine. Elend, aber in der Stadt seiner Träume.
„Chaim Soutine. Gegen den Strom“, Kunstsammlung NRW (K20), Grabbeplatz, Düsseldorf, 2. September 2023 bis 14. Januar 2024. Der Katalog zur Ausstellung kostet 32 Euro.