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Kölner Musikfestival im BlogViel Andrang bei Überraschungskonzert der Leoniden – so läuft die c/o pop

Lesezeit 9 Minuten
Schlange vor dem Helios37, die Leoniden spielten ein spontanes Gratis-Konzert.

Die Schlange vor dem Helios37 ist lang. Die Leoniden spielten ein spontanes Gratis-Konzert.

Vom 24.bis zum 28. April 2024 läuft die 21. Ausgabe der c/o pop in Köln. Alle Infos rund um das Musikfestival lesen Sie hier.

Eine mitreißende Drag-Show von Menschen mit Down-Syndrom

Im Bürgerzentrum Ehrenfeld kommt die Musik zwar vom Band, dafür können bei Whitney Houston, Lady Gaga oder Labelles „Lady Marmalade“ auch ältere Festivalbesucher Textsicherheit unter Beweis stellen. Mitsingen ist nämlich ausdrücklich erwünscht bei der Drag Syndrome Show aus London. Das Kollektiv setzt sich aus Dragqueens und Drag Kings mit Down-Syndrom zusammen, als erstes seiner Art. Das erscheint zunächst nur bemerkenswert, wenn man ausblendet, dass Menschen mit Trisomie 21 die gleiche Diversität an Sexualität, sozialem Geschlecht und Ausdruck derselben mitbringen wie eben alle anderen auch.

Auf der Bühne im großen Saal des BüzE tanzen begehrende, begehrenswerte, in ihren Drag-Identitäten befreite Körper, verwandeln sich ganz nach Gusto in große Diven oder kleine Schlampen, auf jeden Fall in charismatische Performer/innen. Lady Francesca – „Sie ist herrisch, sie ist wild und sie weiß, wie man das Publikum zum Toben bringt“ – streift ihre Handschuhe ab und wirft sie in die johlende Menge. Dann lässt sie die blonde Perücke fliegen. Drag ist eine Einstellung und kein Kostüm. Für ein, zwei, 60 Minuten verliebt sich der Saal in diese Stars und die Winterherzen schmelzen.

Leoniden spielen spontanes Gratis-Konzert und verkünden neues Album plus Tour

Die Leoniden haben im Rahmen der c/o pop ein spontanes Gratis-Konzert im Helios37 gegeben. In ihrer Instagram-Story haben sie einen Tag vorher aufgerufen, gegen 23.15 Uhr zur Location zu kommen, ganz nach dem Prinzip „first come – first serve“. Die Schlange war um 22 Uhr bereits so lang, dass die Fans bis um den Häuserblock auf der Heliosstraße/ Ecke Vogelsangerstraße anstanden.

Bei dem Konzert verkündete die Band zudem einen neuen Song namens „Nevermind“, ein neues Album mit dem Titel „Sophisticated Sad Songs“ und eine Tour, bei der sie am 1. November in Köln Halt machen. Das Album wird am 23. August dieses Jahres erscheinen. Am Sonntagabend haben Besucher der c/o pop noch die Möglichkeit, die Band ein weiteres Mal live in der Live Music Hall zu sehen.


LilliPop gibt Beziehungstipps im Yuca-Club

Den Donnerstagabend der c/o pop eröffnete die Elektropop-Sängerin LilliPop. Deren ravelastige Kindermelodien erinnern – und ist als Kompliment gemeint –an eine kleine, hippe Schwester von Helene Fischer. Die Berlinerin erteilt dem Publikum im Yuca eine Lektion in Gen-Z-Beziehungskunst: Sie sei kein Fan von Commitment, sondern von Situationships. Was das bedeutet? Na, so von Bettchen zu Bettchen springen, sagt LilliPop. Was für eine Frau ja wohl auch völlig okay wäre. Im zur Ansage gehörenden Song schmettert sie einem allzu romantisch glotzenden Gegenüber ihr Mantra „Ich will nur kiffen und Pizza“ entgegen. Es sei das Lieblingslied ihrer Mom, behauptet die Sängerin. Das kann man nachprüfen: Mutti feiert in der Menge mit.

Tym, Sänger und Produzent aus Stuttgart auf der c/o pop 2024

Tym am Donnerstagabend im Club Bahnhof Ehrenfeld.

Von dieser Unverblümtheit könnte sich Tym, der Stuttgarter tritt eine Tür weiter im Club Bahnhof Ehrenfeld auf, eine Scheibe abschneiden: Sein Gesicht hält er unter einer fadenscheinigen Strick-Balaclava verborgen. An seinem Oberkörper baumeln Pokemon-Stofftiere. Auch er bevorzugt das ultraschnelle, dem niederländischen Gabber-Techno entliehene Tempo, das seit geraumer Zeit als klangliche Entsprechung sich überstürzender Krisen den interessanteren Teil der Popmusik beschleunigt hat.

Tyms Gesang – die Hörenden erreichen nur Bedeutungsfetzen – könnte man als Verzweiflungsschrei von der Tanzfläche beschreiben: „Keine Emotions, Herz ist so broken.“ Mit anderen Worten: Er möchte ein Eisbär sein, wie es die stilbildende Schweizer Band Grauzone, die Beatles dieser verlorenen Generation, 1980 formulierte. Musikalisch ist das indes ungemein reichhaltig, der Trost liegt in der Dichte der Informationen.


Kev Koko auf der c/o pop 2024

Kev Koko (l.) im CBE

Es geht auch lebensbejahender: Kev Koko aus Berlin-Spandau hat sich zuerst als Teil des bollernden Techno-Kollektivs FJAAK einen Namen gemacht, als Songschreiber und Produzent hat er für so grundverschiedene Acts wie Clueso, das Indie-Duo Milky Chance, den österreichischen Rap-Star RAF Camora und Ski Aggu, der Sensation der c/o pop des vergangenen Jahres, gearbeitet.

Erst vor wenigen Tagen hat Kevin Kozicki eine radikale Kurskorrektur seines bisherigen musikalischen Schaffens veröffentlicht, jetzt spielt er im CBE zum ersten Mal die Songs sein neues Album „Playground“ auf der Bühne: elektronisch unterlegter, enorm fluffiger Gitarrenpop, ein wenig ruffer als The Whitest Boy Alive und sehr viel scheppernder als Tame Impala. Es ist der Sound der ersten Verliebtheit. Aber Vorsicht: „Für ein oder zwei Minuten dachte ich, ich würde mich in dich verlieben“, singt Kev Koko, „aber dann wurde mir klar, dass wir meilenweit entfernt sind.“ Arme Jugend, selbst das Glück bleibt solipsistisch.


Nicht nur Konzerte und Party: Podcasts bei der c/o pop

Das Prinzip Live-Podcast füllt inzwischen große Hallen und erfreut sich auch bei der c/o pop großer Beliebtheit: Sieben verschiedene Podcasts können und konnten Besucher sich im Verlaufe des Festivals anhören und -sehen.

Zwischen zwei Plastikpflanzen sitzen am Donnerstagabend auf der Bühne drei Menschen und quatschen, erzählen und philosophieren über Musik – die Aufzeichnung des Podcasts „Reflektor“ von Tocotronic-Bassist Jan Müller hat nicht nur Fans der Band Tränen, die in dieser Folge zu Gast war, ins Artheater in Ehrenfeld gezogen, sondern auch generell musikinteressiertes Publikum.

Drei Menschen sitzen auf einer Bühne, sie haben Mikrofone in der Hand und sprechen miteinander.

Steffen Israel, Gwen Dolyn und Podcast-Host Jan Müller (v.l.) im Artheater.

Es lauscht dem Gespräch der drei Musiker gebannt und lacht immer wieder auf, wenn Podcast-Host Müller in eigene Erzählungen abschweift und erst nach mehreren Kurven zu seiner eigentlichen Frage zurückkehrt. Mit der Indie-Band Tränen, bestehend aus Sängerin Gwen Dolyn und Kraftklub-Gitarrist Steffen Israel, spricht Müller über die Entstehung von Bands, Songs, Erfahrungen und Emotionen bei Konzerten, Inspiration und Politik.

Warum sie überhaupt noch ein Album produziert hätten, fragt er das Duo etwa. In Zeiten von Streaming sei das eigentlich nicht mehr notwendig. „Ich wollte das Gefühl haben, etwas geschafft zu haben“, sagt Gwen Dolyn. In gebündelter Form eines Albums habe das mehr Gewicht. Müller sinniert: „Ich finde, es hat eine Magie, dass sich das durchgesetzt hat und Menschen sich dahinsetzen und 45 Minuten lang zuhören.“ Knapp eine Stunde lang geht es durch die Untiefen des Musikgeschäftes – dann reist die Band einige Straßen weiter zu ihrem Konzert im Clubbahnhof Ehrenfeld. (lcs)


Für seinen Auftritt bei der Tincon hat Miguel Robitzky sich extra rausgeputzt: In weißem Ganzkörper-Anzug stolziert er mit Carolin Worbs auf die Bühne in der Pattenhalle in Ehrenfeld. Das Publikum johlt. Den Anzug, den Giovanni Zarrella damals bei der Wok-WM getragen haben soll, habe eine Freundin in einem Second-Hand-Laden in Köln gefunden. Genau das richtige Outfit für den „too many tabs“-Live-Podcast während der c/o pop Convention, dachte sich Robitzky.

Das Podcast-Duo arbeitet im Autorenteam von Jan Böhmermanns Sendung „ZDF Magazin Royale“, seit rund anderthalb Jahren produzieren die beiden gemeinsam außerdem ihren Podcast. Dabei tauchen sie wöchentlich tief ein in Themen, die sie oder ihre Hörerinnen und Hörer beschäftigen. Der Name „too many tabs“, auf Deutsch „zu viele Browserfenster“, steht dabei für die vielen Browserfenster, die man bei so einer Rechercheaktion öffnet.

Carolin Worbs und Miguel Robitzky nehmen bei der Tincon ihren Live-Podcast auf.

Carolin Worbs und Miguel Robitzky nehmen bei der Tincon ihren Live-Podcast auf.

In der Pattenhalle geht Worbs dem Phänomen nach, dass sich die ganze Welt vor der Jahrtausendwende vor dem sogenannten „Millennium Bug“ fürchtete. Weil in Computersystemen nur zwei Ziffern für die Jahreszahlen benutzt wurden – im Jahr 2000 also nur 00 – war die Sorge groß, dass das zu Systemeinbrüchen führen könnte. Die Fernsehbeiträge mit brennenden Autos als Schnittbildern und IT-Mitarbeitern, die mit Söldnern verglichen werden und in den Kampf ziehen, wirken aus heutiger Perspektive urkomisch.

Robitzkys Recherchen haben ihn zu Castingshows, genauer gesagt Til Schweigers „Mission Hollywood“ geführt. Er zeigt, wie fiese Kommentare über das Äußere der Kandidatinnen 2009 offenbar noch kein Problem im deutschen Fernsehen waren, analysiert die hohe Männerquote der Jury und liest aus Kritiken zu der Castingshow. Wenig überraschend sind die nicht allzu positiv. Dem sehr jungen Publikum in der Pattenhalle – das beim Jahrtausendwechsel zum Teil noch nicht geboren und 2009 für Castingshows zu jung war – gefällt's.


So lief die Eröffnung der c/o pop 2024

Die Kids sind nicht okay. Sagt die Trendstudie „Jugend in Deutschland 2024“. Ihre Musik allerdings schon. Auch wenn sie, wie die Studie, von einem Leben im Dauerkrisenmodus erzählt. Ganz sachte begann auch am Mittwochabend die c/o pop. Das Kölner Musikfestival geht zwar schon in seine 21. Ausgabe und darf jetzt auch in Amerika ein Bier bestellen, aber seit ein paar Jahren hat es sich zur Aufgabe gemacht, ein Fest für die jeweils jüngste Generation von Konzert- und Clubgängern zu sein. Mit Erfolg und angenehm unverkrampft. Während sich das Popbusiness zum Eröffnungsempfang im Herbrand’s trifft, feiert das Publikum in der ausverkauften Live Music Hall, unplugged und sehr emotional.

Dem erst 19-jährigen Jas gelang im vergangenen Dezember gleich mit seiner ersten Single „Winterherz“ ein Achtungserfolg. Für den festlichen Anlass haben er und seine drei Mitmusiker dunkle Hosen und weiße Hemden gewählt, das gibt Konfirmationsvibes ab. Seine Lieder handeln wenig überraschend von Liebeskummer und dem ersten Beziehungsstress. Im Widerstreit der Gefühle geraten Jas ab und an die Metaphern durcheinander: Im Song „Straßengraben“ will er die Verflossene in ein Taxi setzen, nur um sie im eigenen Wagen zu überholen, den er dann prompt in den titelgebenden Straßengraben setzt. Doch wie dann beide wieder im selben Gefährt landen, nur um Auto und Beziehung gegen die Wand zu fahren, bleibt rätselhaft.

Doch Jas singt das voller Überzeugung – ein schmaler Boy, der allein von seiner Sehnsucht zusammengehalten wird – und seine Band setzt behutsame semi-akustische Tupfer dazu und wenn man einige Jahrzehnte jünger und ein heterosexuell orientiertes Mädchen wäre, könnte man schon ins Schwärmen geraten.

Die Ehrenfelder Bühne ist mit Ledercouch, Zimmerpflanzen, Büchern und großmütterlichen Stehlampen super cozy dekoriert. Dass sie dann noch in Rotlicht getaucht und von einem „Careless Whisper“-Saxofon beschallt wird, ist nur konsequent. Majan, der Star des Abends, tritt mit übergroßer Anzugsjacke und tief in die Stirn gezogener Mütze ins gediegene Umfeld. Der kleine Finger an seiner rechten Hand ruht im Verband. Ein Unfall mit dem neugekauften Kickroller, peinlich, erzählt der große Mann aus dem schwäbischen Schorndorf später, als er sich längst warmgesungen hat. Und mit was für einer Stimme!

Writer, Sänger und Multiinstrumentalist Majan in der Live Music Hall

Writer, Sänger und Multiinstrumentalist Majan

Die wechselt mühelos von Neo-Soul zu Autotune-verzerrtem Trap-Rap zu vernuschelten Roots-Reggae oder aufwühlenden Klavierballaden. Das hat man alles schon mal so gehört und oft genug auf Majans Label Four Music. Aber selten in einem derart stimmigen Rundumpaket. Außerdem kann Majan besser texten als geschätzte 90 Prozent seiner Mitbewerber. Kann Bilder schaffen, die man sofort erkennt, die sich aber zugleich gelebt anfühlen: „Papa leiht dir seinen Benzer“, heißt es etwa im Scheidungskind-Song „Panikweiß“, „Hundertneunzig irgendwohin, Fingernägel tief im Lenkrad, Tränen fließen in dein Ohr.“

Oder die Hook von „Krankenwagen“: „Brech‘ unser Herz, mach‘ es uns schwer/ Tret‘ nochmal drauf, bis ich glaubе, wir sterben/ Und sag‘ dann dem Krankеnwagen, er soll langsam fahr’n/ Dass am Ende auch safe nichts mehr da ist/ Von dem man noch sagen kann/ Es gäb da noch was zu zerstör’n.“ Das geht am Piano nahtlos in ein Cover von Kendrick Lamars „Bitch, Don’t Kill My Vibe“ über, und selbst daran verhebt sich Majan nicht.


c/o pop an ungewöhnlichen Orten

Während der c/o pop verwandelt sich Köln-Ehrenfeld in eine Festival-Bühne. Dabei werden nicht nur die gängigen Locations bespielt. Musikfans können auch ungewöhnliche Orte besuchen, wie zum Beispiel den Heliosturm oder eine Sparkasse. Lesen Sie hier, welche außergewöhnlichen Veranstaltungsorte die c/o pop 2024 bietet.


Alle Infos zum Musikfestival

Das c/o pop Festival wurde am 24. April mit einem exklusiven Unplugged-Set vom Rapper Majan eröffnet. Infos zu den weiteren Highlights des diesjährigen Festivals, zu Tickets und Veranstaltungsorten finden Sie hier.