Corona-Virus und TerrorWie viel Kontrolle soll der Staat in Krisen haben?
- Stefan Weidner, Autor und Islamwissenschaftler, ist Gründungsmitglied der Akademie der Künste der Welt in Köln.
- In diesem Gastbeitrag der Serie „Geteilte Beobachtungen“ schreibt er über die weltweiten Auswirkungen der Pandemie.
- Er sieht mit Corona unter anderem die 11.September-Epoche zu Ende gehen.
Als im März die Corona-Krise nicht mehr zu verdrängen war, saß ich in der Künstlerresidenz Tarabya in Istanbul an meinem neuen Buch über die Nachwirkungen der Terroranschläge vom 11. 9. 2001, das Anfang 2021 erscheinen soll. Als dann die Krise ausbrach, schien mir meine Arbeit auf einmal bedeutungslos. Statt Islamwissenschaftlern sind nun Virologen gefragt. Und die Epoche von 9/11 ging zu Ende. In den USA fühlen sich jedoch viele an die Zeit nach 9/11 erinnert. Gibt es jenseits des schockartigen Einschnitts, den die Jahre 2001 und 2020 darstellen, vielleicht tiefere Gemeinsamkeiten und Zusammenhänge? Mit dieser Frage, die mein Buch abschließen wird, beschäftige ich mich gerade.
Sind wir alle potentielle Gefährder?
Die erste Frage, die wir uns alle stellen müssen, lautet, wie viel Kontrolle der Staat in Ausnahmesituationen haben soll und welche Gefahren für Datenschutz und Persönlichkeitsrechte entstehen, wenn wir alle als potenzielle (Virus-)Gefährder behandelt und womöglich mit Tracking-Apps verfolgt werden, wie es demnächst in der Türkei der Fall ist, wo man bei Reisen mit öffentlichen Verkehrsmitteln einen Barcode beantragen muss, über den alle Kontakte während der Reise, auch zufällige, zurückverfolgt werden können. Die Einschränkungen, die uns auferlegt werden, werfen zusätzlich die brisante Frage auf, welche Aspekte unserer bisherigen Lebensweise auf Dauer unverzichtbar und systemrelevant sind. Oder anders gefragt: Wie viel Ausnahmezustand sind wir bereit hinzunehmen, und für wie lange? In Ägypten gab es nach der Revolution jahrelang keine Fußballspiele, weil die Machthaber Angst vor den Fans hatten. In Afghanistan ist das öffentliche Kulturleben wegen der Gefahr von Anschlägen schon seit langem zum Erliegen gekommen. Jetzt trifft es uns.
Die Mentalität, mit der viele westliche Politiker auf das Virus reagieren, ist dieselbe, mit der die USA bei der Bekämpfung des Terrors weitgehend gescheitert sind: die des Krieges und der Konfrontation. Und wie bei der Ausrufung des Irakkrieges 2003 bildet Deutschland aufgrund seiner Vergangenheit auch in der Corona-Krise eine rühmliche Ausnahme: Auf Kriegsrhetorik verzichten unsere Politiker. Denn mit einer schieren Logik der Konfrontation kommt man dem Virus ebenso wenig bei wie dem Terror. Virus und Terroristen haben die Unsichtbarkeit gemein. So wie jeder Muslim einst als potenzieller Terrorist galt, gilt heute jeder Bürger als eine möglicher Virusträger — jeder von uns kann zum Kollateralschaden dieses Krieges werden –, und viele sind es schon geworden.
Psychische Belastung
Die um sich greifende Kultur des Generalverdachts und der allgemeinen Verunsicherung stellt im Übrigen eine häufig unterschätzte psychische Belastung dar. Die Politik versucht, darauf mit Maßnahmen zu reagieren, die Kontrolle suggerieren. Welche von diesen Maßnahmen aber wirklich sinnvoll und angemessen sind, weiß aktuell niemand. Aber der nach 9/11 und im Zusammenhang mit der Islam- und Einwanderungsfrage aufgekommene Populismus gefährdet mit seinem Misstrauen gegen den Staat die effektive Eindämmung des Virus, so gut es auch sein mag, dass die Corona-Maßnahmen gründlich hinterfragt werden.
Betrachten wir das, was gerade passiert, aus einer höheren, weltgeschichtlichen Perspektive, so fällt auf, dass Virus und Terror gleichermaßen eine unerwünschte Nebenfolge der Globalisierung sind. Nach 9/11 war die Antwort ein trotziges „Jetzt erst recht!“: Eine weitere Beschleunigung des Wachstums und der internationalen Vernetzung. Das Virus hat diese Entwicklung abrupt ausgebremst. Die Chance zum Umdenken sollte diesmal genutzt werden, wenn wir weitere ähnliche Krisen vermeiden wollen. In der Analyse kommt auch dem Kolonialismus als Vorläufer der Globalisierung eine Schlüsselrolle zu. So wie der Terror ein entgleister Nachfahre der einstigen anti-kolonialen Befreiungsbewegungen ist, war die echte, biologische Viralität zugleich Motor und Hemmnis der kolonialen Eroberungen – einerseits fielen ihr die Ureinwohner Amerikas schon zum Opfer, andererseits starben die Europäer an Tropenkrankheiten.
Das Stichwort Viralität hilft uns auch, die Moderne besser zu verstehen. Sie hat auf dem Weg beschleunigter Kommunikation fast alle Gesellschaften auf dem Globus angesteckt und neu codiert. Manche sind damit sehr erfolgreich gefahren; andere hat der Zwiespalt zwischen Tradition und Moderne in eine Identitätskrise gestürzt und eine große Zerrissenheit bewirkt, wie zum Beispiel die Türkei. Die Verbreitung von Virus und Terror lässt sich, so denke ich, auch mit politischen Legitimationsproblemen in den Ländern erklären, in denen sie entstanden sind. Mangelhafte Partizipation und Demokratie haben den Terror in der islamischen Welt begünstigt. Der Umgang mit dem Virus in China – erst Zensur und Verleugnung, dann rabiate Gegenmaßnahmen – ist ebenfalls das Ergebnis eines demokratisch mangelhaft legitimierten und daher um seine Akzeptanz fürchtenden politischen Systems. Durch die Paranoia des Staates und die Zensur wurde aber die Verbreitung des Virus erst ermöglicht.
Das führt aufgrund der harten Maßnahmen, die nun überall auf der Welt getroffen werden, zur Legitimationskrise auch in demokratischen Gesellschaften, die plötzlich genauso reagieren müssen wie China. Um diese Ansteckung durch falsche Politik in Zukunft zu verhindern, empfiehlt sich im Umgang mit mangelhaft legitimierten politischen Systemen eine Art zwischenstaatliches „social distancing“.
Zur Serie und zur Person
Wie wirkt sich die Corona-Pandemie auf konkrete Lebensverhältnisse aus? Wie wirkt das Globale im Lokalen? Unter dem Titel „Geteilte Beobachtungen“ versammelt die Akademie der Künste der Welt (ADKDW) in Kooperation mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ Texte von Mitgliedern der ADKDW.
Stefan Weidner, Autor und Islamwissenschaftler, ist Gründungsmitglied der Akademie der Künste der Welt. Im Hanser Verlag erscheint im Januar 2021 sein Buch „Ground Zero. Der Terror, das Virus und die Welt von morgen“.
Schließlich ist auffällig, dass der Nationalismus, dessen Wiedererstarken mit 9/11 und dem dadurch befeuerten Populismus begonnen hat, in der Corona-Krise zur Leitgröße staatlichen Handelns wird: Fast alle Grenzen wurden geschlossen, es gibt wenig internationale Solidarität, die Flüchtlingskrise findet keine Aufmerksamkeit mehr, und die Bewältigung der Pandemie wird vornehmlich als nationale Aufgabe begriffen. Corona droht ein Virus der Abschottung zu gebären, das nichts Gutes verheißt.
Virus und Terror sind ein Prisma. Sie zerlegen unsere Gesellschaften in ihre Spektralfarben und zeigen uns, wer wir sind, aus welchen Elementen wir bestehen. Wie die Hardware unter unseren schönen, aber trügerischen Benutzeroberflächen wirklich funktioniert und welche Prioritäten wir setzen, wenn die Zeit von Rhetorik und Wunschdenken vorbei ist. Wir schauen uns bei dieser Spektralanalyse zu, kratzen uns am Kopf und fragen uns, wo wir morgen aufwachen werden.