Kritiker, Autorin, Professor, Buchhändlerin – wir haben Kölner Literaturprofis um ihre ganz persönlichen Buchtipps für den Sommer gebeten.
Das empfehlen Kölner Literatur-ProfisInspiration für Ihre Lese-Ferien
„Mit bestechendem Sprachwitz gesegnet“
Saša Stanišić, der 1978 in Bosnien auf die Welt kam und Anfang der 90er Jahre, als der Jugoslawienkrieg Städte, Dörfer und Biografien zerfetzte mit seinen Eltern nach Deutschland floh, schreibt in dem autobiografischen Roman „Herkunft“ vom Weggehen und Ankommen, von Begegnungen und Spurensuche. Dieses großartige Buch habe ich im Lockdown-Sommer 2020 als Hörbuch verschlungen – auf meinem SUP-Board liegend, das ich mitten im Bleibtreusee an einer Boje befestigt hatte. In Deutschland ist es nicht üblich, dass Autoren, die nicht auch Schauspieler sind, ihre Bücher lesen. Das ist gut so! Große Ausnahmen sind Elke Heidenreich und eben Saša Stanišić, der mit einem bestechenden Sprachwitz gesegnet ist.
Susanne Abel ist Regisseurin und Autorin. Schon ihr Debüt „Stay away from Gretchen: eine unmögliche Liebe“ war ein Besteller, genauso wie „Gretchens Schicksalsfamilie“, beide sind bei dtv erschienen.
„Ein literarischer, historischer Roman zwischen Traum und Realität“
In Wien verbringe ich überaus gerne Zeit, vor allem im Sommer. Raphaela Edelbauer hat mit „Die Inkommensurablen“ ein großartiges Buch geschrieben, das dort am Tag vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs spielt. Die Kriegshysterie ist überall spürbar, als Hans, ein junger Pferdeknecht aus Tirol, in der Großstadt eintrifft, um eine Psychoanalytikerin aufzusuchen. Im Zuge dessen lernt er die Mathematikstudentin Klara und ihren Freund Adam, einen jungen Adligen, kennen und durchlebt die folgenden turbulenten Stunden mit ihnen. Höchst unterhaltsam und kunstvoll verwebt Raphaela Edelbauer Fakten mit Fiktion. Ein literarischer, historischer Roman zwischen Traum und Realität, der – temporeich erzählt – einen ganz eigenen Sog entwickelt. Perfekte Urlaubslektüre!
Kristina Geilhaupt arbeitet als Buchhändlerin in der Kölner Buchhandlung Bittner.
„Ein Roman für einen Sommer am See“
Ein Roman für einen Sommer am See. Ein Roman, der vom Wind erzählt, von auf dem Sandboden glühenden Kiefernnadeln und vom Segeln. Almut erbt von ihrem Vater ein Segelboot. Sie ist Literaturwissenschaftlerin und alleinerziehende Mutter, weiß wenig über Instandhaltung und Renovierung eines Bootes. Jahrelang verausgabt sie sich, körperlich und finanziell, will das Boot verkaufen und kann sich doch nicht trennen. Mit der Leidenschaft, die sie für ihren Drachen entwickelt, wächst auch ihre Unabhängigkeit. 1982 erschienen, wurde der Roman ein DDR-Bestseller und nun vom Ecco Verlag wiederaufgelegt. Zeitlos schreibt Christine Wolter über den Traum vom selbstbestimmten Leben – und von Freiheit: „Der Mut kommt nach der Angst, das Segeln kommt nach dem Ablegen.“
Ulrike Schulte-Richtering macht zusammen mit Bettina Fischer die Programmarbeit des Kölner Literaturhauses und kümmert sich um die Öffentlichkeitsarbeit.
„Wortgewaltige Beschreibung einer Ausnahmeexistenz“
Bettine von Armin veröffentlichte 1843 „Dieses Buch gehört dem König“ und führte darin dem gerade auf den Thron gekommenen preußischen König Friedrich-Wilhelm IV. die schockierenden Zustände in seinem Königreich vor Augen. In „Dieses Buch gehört dem König 2.0“ erzählt Doris Vogel auch von einem König – dem King, Elvis Presley. Doris Vogels Gedichte erfassen das Leben eines Menschen, das durch Ruhm und Verehrung, aber auch durch Abstürze und Verzweiflung gekennzeichnet ist. Ausgerechnet in der wortgewaltigen Beschreibung einer Ausnahmeexistenz werden menschliche Universalien deutlich wie Einsamkeit, Verlust und Sehnsucht nach Transzendenz. Diese Gedichte finden Worte für den unerklärlichen Rest eines Menschenlebens. Nach Vogels Buch möchte man Royalist werden.
Denis Scheck arbeitete als literarischer Übersetzer und Herausgeber und als Literaturkritiker im Radio. Er moderiert die Fernsehsendungen „Lesenswert“ im SWR und „Druckfrisch“ in der ARD und veranstaltet das Festival "Literatur am Dom" in Altenberg.
„Ein wahnsinniges Leseerlebnis“
Schon immer bin ich ein Fan von Siri Hustvedt. Im März 2023 erschien ihre jüngste Essaysammlung. Sie sollte zur lit.Cologne kommen, musste aber ihre Reise absagen. Dennoch schaltete sie sich per Video zu und ihre Präsenz über die Leinwand hat mich so beeindruckt, als wäre sie live in der Flora. Ich habe mir dieses fantastische Buch für den Urlaub aufgehoben. Es gibt nichts, was Siri Hustvedt nicht interessiert: Literatur, Philosophie, Psychologie, Kunst und True Crime. All diese Themen verbinden sich mit Geschichten aus ihrer Familie, mit sprachlicher Genialität und enormem Wissen zu einem wahnsinnigen Leseerlebnis. Ich war erschlagen von diesem dicken Band, den ich nachts in Frankreich atemlos gelesen und morgens beim Frühstück den Mitreisenden versucht habe nachzuerzählen. Das Buch, das ich letztes Jahr am meisten empfohlen habe!
Rieke Brendel ist Geschäftsführerin und Produktionsleiterin der lit.Cologne.
„Ich konnte das Buch nicht mehr aus der Hand legen“
Sommerzeit, Schwimmbadzeit. Im Schwimmbad spielen große Teile von Annika Büsings Debütroman „Nordstadt“ von 2021. Nene, eine junge Frau, arbeitet dort. Im Norden, der „Schäl Sick“ dieser Stadt. Nene wurde von ihrem alkoholkranken Vater jahrelang grün und blau geschlagen. Sie denkt, sie hat keine Optionen, anders als Menschen, die im Süden wohnen. Sie denkt, „Halt die Fresse“ zu einem anderen zu sagen, sei nicht aggressiv. Im Schwimmbad lernt Nene Boris kennen, einen jungen Mann, der am Ende eines jeden Monats nur noch wenige Cents in seinem Portemonnaie hat. Die Liebe der beiden dauert bis in den Herbst hinein. Dann verlieren sie sich. Oder doch nicht? Ich, der ich Nordstadt, nachdem ich es zu lesen angefangen hatte, nicht mehr aus der Hand legen konnte, wage zu hoffen, dass es weitergeht mit Nene und Boris, über den Herbst und den Winter hinaus. Leise Andeutungen im Roman mögen mir recht geben. Aber vielleicht sind diese auch nur da, weil ich mir einbilde, die beiden hätten Optionen.
Christof Hamann ist Autor und Professor für neuere deutsche Literaturwissenschaft und Literaturdidaktik an der Universität zu Köln.