Das Fernweh der Romantiker
- Joseph von Eichendorffs Gedicht „Sehnsucht“ aus dem Jahre 1834 schildert Reise-Gedanken in einer prächtigen Sommernacht
Flughäfen können ein melancholischer Ort sein. Vor allem, wenn man nicht selbst verreist. Zu wissen, man müsste nur in ein Flugzeug steigen und wenige Stunden später käme man an einem anderen Ort, in einer anderen Kultur an, ist verlockend, kann aber auch traurig machen. So viele ungenutzte Möglichkeiten. So viele Orte, die man vielleicht nie besuchen wird.
Joseph von Eichendorff kannte keine Flughäfen. Doch dieses Gefühl, dieses Fernweh war ihm mehr als vertraut. Ja, es ist vielleicht die Grundstimmung seines literarischen Schaffens. Nichts bringt diese – schon im Titel – besser auf den Punkt als sein 1834 veröffentlichtes Gedicht „Sehnsucht“. Der Duden definiert Sehnsucht als „inniges, schmerzliches Verlangen“ nach jemandem oder etwas. In Eichendorffs Gedicht ist es das Fernweh, ebenfalls ein zentrales Motiv der Romantiker, auch wenn diese es nicht so nannten.
In „Sehnsucht“ steht das lyrische Ich einsam am Fenster – der Schwelle zwischen dem schützenden Zuhause und der Außenwelt – und hört „in weiter Ferne“ ein Posthorn. Dieses akustische Signal reicht aus, um den Wunsch auszulösen, die vertraute Umgebung zu verlassen. Und auch der zweite Impuls kommt aus der Außenwelt. Das lyrische Ich hört das Singen zweier junger Gesellen, die am Bergeshang vorübergehen.

Naturidyll nach Romantiker-Art
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Die beiden sind auf einer Wanderung und berichten von dem, was sie erlebt haben. Das Wandern war zur Zeit der Romantik die bevorzugte Art zu Reisen. Es gibt keine langsamere Art, voranzukommen. Wir können heute ins Flugzeug steigen und wenige Stunden später auf einem anderen Kontinent ankommen. Das ist ein großes Geschenk. Aber den Geist, der so schnell gar nicht mitreisen kann, überfordern wir so allzu oft. Der Wanderer muss sich jeden Meter seiner Reise selbst erarbeiten, er nimmt genau wahr, was ihm unterwegs begegnet, er bemerkt jede noch so kleine Veränderung der Landschaft, des Klimas, der Architektur.
Der einsam am Fenster Stehende nimmt durch die Erzählungen der beiden an deren Reise teil. Auffällig ist die Beschreibung der Natur, die wild und aufregend zu sein scheint. Die „Felsenschlüfte“ sind schwindelnd, die Quellen stürzen sich von den Klüften. In der dritten Strophe wird es jedoch deutlich lieblicher. Die Gärten verwildern, die Mädchen lauschen am Fenster – ebenso wie das lyrische Ich, das hier eine direkte Verbindung herstellt –, der Lautenklang erwacht. Und die Brunnen rauschen verschlafen.
Dabei ist der imaginierte Ort der Reise immer eine Idealisierung. Da ging es den Romantikern nicht anders als uns heute. In unserer Vorstellung sind die Strände immer menschenleer, der Sand schneeweiß, der Bergsee klar, das Wetter gut. Fernweh hat den großen Vorteil, dass es sich nicht an der Realität messen lassen muss. Deshalb erscheint die Sehnsucht den Romantikern auch der eigentlich erstrebenswerte Zustand zu sein. Das lyrische Ich in „Sehnsucht“ will sich zu keinem Zeitpunkt selbst auf den Weg machen. Die Reise im Kopf reicht aus.
Und noch etwas ist auffällig. Die von Eichendorff beschriebene Szene spielt sich in einer „prächtigen Sommernacht“ ab. Das ist sicherlich kein Zufall. Die Nacht entlässt uns aus den Aufgaben des Alltags, die wir tagsüber bewältigen müssen. Stunden, in denen andere schlafen, erscheinen wie ein Geschenk, um unseren Gedanken nachzuhängen, um mit uns allein zu sein, um mit offenen Augen zu träumen.
Joseph Karl Benedikt Freiherr von Eichendorff waren Reisen nicht fremd. Sie führten ihn unter anderem nach Paris und Wien. In den Kreisen, aus denen er stammte, galten solche Fahrten in erster Linie als Bildungsreisen. Ein zielloses Umherschweifen dürfte ihm fremd gewesen sein.
In der Romantik war das Reisemotiv vor allem auch ein Ausdruck der Sehnsucht, dem Alltag zu entfliehen, der zunehmend von Technisierung geprägt war. An der Schwelle zur Industrialisierung schien die Natur, der Raum außerhalb der Zivilisation, ein erstrebenswerter, sicherer Ort zu sein. Dem gläubigen Eichendorff offenbarte sie zudem das Wirken Gottes als Schöpfer. „Eichendorff ist kein Dichter der Heimat, sondern des Heimwehs, nicht des erfüllten Augenblicks, sondern der Sehnsucht, nicht des Ankommens, sondern der Abfahrt“, hat es Rüdiger Safranski formuliert, der damit eine Wendung Theodor Adornos übernimmt und ergänzt.
Was bleibt? Die Sommerferien neigen sich langsam, aber sicher dem Ende entgegen. Bald hat die meisten von uns der Alltag wieder. Von Eichendorff können wir lernen, dass die schönsten Reisen aber vielleicht ohnehin die sind, die wir in unserem Kopf unternehmen. Da kann uns niemand reinreden, da können wir uns alles vorstellen, alles erleben, alles sehen. Sehnsucht ist eine schöne Sache.
Wir dürfen aber nicht vergessen, dass wir uns nur überraschen lassen können, wenn wir den Schritt hinaus wagen. Das lyrische Ich in Eichendorffs Gedicht scheint über alles Sehnen und Träumen nämlich zu vergessen, dass um es herum eine prächtige Sommernacht ist, in der die Sterne so golden scheinen.
Manchmal ist ja schon ein Spaziergang eine kleine Reise.
Sehnsucht
Es schienen so golden die Sterne, Am Fenster ich einsam stand Und hörte aus weiter Ferne Ein Posthorn im stillen Land. Das Herz mir im Leib entbrennte, Da hab' ich mir heimlich gedacht: Ach wer da mitreisen könnte In der prächtigen Sommernacht!
Zwei junge Gesellen gingen Vorüber am Bergeshang, Ich hörte im Wandern sie singen Die stille Gegend entlang: Von schwindelnden Felsenschlüften, Wo die Wälder rauschen so sacht, Von Quellen, die von den Klüften Sich stürzen in die Waldesnacht.
Sie sangen von Marmorbildern, Von Gärten, die überm Gestein In dämmernden Lauben verwildern, Palästen im Mondenschein, Wo die Mädchen am Fenster lauschen, Wann der Lauten Klang erwacht, Und die Brunnen verschlafen rauschen In der prächtigen Sommernacht.
Unsere Sommer-Serie
Ferienzeit ist Reisezeit – deshalb wollen wir uns mit der „Kunst des Reisens“ befassen. In dieser Sommer-Reihe kommt es nicht so sehr darauf an, was in den Koffer gehört und was nicht. Vielmehr wollen wir uns damit beschäftigen, wie in den verschiedenen Künsten das Reisen dargestellt worden ist. Nach Jules Vernes literarischer „Reise in 80 Tagen um die Welt“, einem Gemälde von
Pieter Bruegel, „Gullivers Reisen“, „Peterchens Mondfahrt“ und der „Odyssee“ geht es heute um „Sehnsucht“. (ksta)