Nach dem Tod Andy Fletchers sind sie zum Duett geschrumpft. Doch in der Düsseldorfer Merkur-Spiel-Arena finden Depeche Mode zu neuem Leben.
Depeche Mode in DüsseldorfWie Dave Gahan und Martin Gore vor 90.000 Menschen ihre Freundschaft erneuern
Man muss nur blinzeln, singen Martin Gore und Dave Gahan im Duett (wenn auch jeder für sich) und die Welt färbt sich rosa ein. Dass Engel herabsteigen, wie es die nächste Zeile von „Waiting for the Night“ verspricht, spüren die Menschen im Düsseldorfer Stadion selbst. Die beiden Überlebenden von Depeche Mode, stehen nebeneinander auf dem Laufsteg, der weit in die Menge ragt, es ist die erste von vier Zugaben.
Als sie von ihrer kurzen Verschnaufpause aus dem Backstage-Bereich zurückgekehrt waren, hatte Gahan kurz seinen Arm um Gore gelegt und ihm ein „come on, let’s go“ zugerufen, ohne Emphase, es war ja nicht an die Massen gerichtet, nur eine kleine Rückversicherung unter Bandkollegen: Wir bringen das jetzt zu Ende. Und wie sie die Nacht anhimmeln! Auch wenn das Dach der riesigen Arena geschlossen ist und der Erdbeermond für sich alleine scheinen muss. Dann, als sie ein letztes Mal die Macht der Nacht beschworen haben, schließen sie mit dem Wort „Stille“, verbeugen sich vor ihrem Publikum, verbeugen sich tiefer vor einander, dann fallen sie sich in die Arme.
Der Tod war schon immer Depeche Modes Begleiter
Da haben sich zwei wieder gefunden. Seit 43 Jahren bilden sie eine Band, wie entgegengesetzte Pole, die sich magnetisch anziehen, auch wenn eine Welt zwischen ihnen liegt. Sie sind gemeinsam durchs Leben und durch einige Nahtoderfahrungen gegangen, und jeder einzelne Artikel über Depeche Mode betonte die Vermittlerrolle, die der Dritte im Bunde, Andy Fletcher, ausfüllte. Als der Vernunftbegabte vor etwas mehr als einem Jahr plötzlich und unerwartet starb, ein Riss in der Hauptschlagader, hätte das auch das Ende der Gruppe bedeuten können.
Doch Martin Gore hatte in den langen Lockdown-Tagen vor Flechters Tod schon ein ganzes Album an neuen Songs geschrieben, die meisten davon mit Richard Butler, dem ehemaligen Sänger der Psychedelic Furs - und Dave Gahan hatte sie für mehr als gut befunden.
Also weiter, wie es das Leben verlangt. Die Platte tauften sie „Memento Mori“, natürlich. Der Tod war schon immer ihr Begleiter. Er saß gleich neben ihnen, verborgen in der dunklen Nacht, in der auch sie Trost suchten. Jetzt prangt ein gigantisches „M“ im Hintergrund einer erstaunlich leeren Bühne. Christian Eigner und Peter Gordeno übernehmen, wie seit Jahrzehnten, Schlagzeug und Keyboard im minimalistischen Line-up. Fletch fehlt und wird nicht ersetzt.
Als Depeche Mode etwa in der Mitte des gut zweistündigen Sets „World in My Eyes“ spielen, erscheint ein Porträtfoto des jungen Andy Fletcher auf den LED-Wänden. Ihm wird das charakteristische Brillengestell aufgemalt, dann schließt der Porträtierte die Augen, hält eine Hand vor ein Brillenglas und die Fans strecken im Gegenzug ihre Hände hoch, verbinden Daumen und Zeigefinger beider Hände zum Augensymbol, so wie es Martin Gore auf dem Cover der Single und im Video tut. Wie sieht die Welt aus, wenn man die Augen für immer schließt? „Mr Andrew Fletcher“, ruft Gahan am Ende des Stücks aus. Dass es Fletchs Lieblingssong war, wissen hier wohl die meisten.
Depeche Mode: Dave Gahan verliert keine Worte und 45.000 Fans genießen das Schweigen in Düsseldorf
Für das Gemeinschaftsgefühl der Depeche-Mode-Fans – allein in der Merkur-Spiel-Arena werden es an zwei Abenden insgesamt 90.000 sein – bedarf es keiner großen Rede. Von Gahan hört man am Sonntagabend eigentlich nur „Düsseldorf!“, einmal fragt er „Das ist gut?“ auf Deutsch, aber die Frage ist selbstredend nur rhetorisch und ihr folgt prompt „Enjoy the Silence“, der Hit, bei dem zehntausend Verzauberte die Zeile mitsingen, dass Worte sehr unnötig sind. Ein kurzes Drumsolo läutet eine lange Coda ein, Gore und Gahan laufen dazu um die Wette auf der Stelle, dann spielt Gore zum feuchten Blubbern des Synthesizers eine furztrockene Funk-Gitarre.
Eröffnet hatten sie den Abend mit den ersten beiden Stücken von „Memento Mori“, der pathetisch-düsteren Eröffnung „The Cosmos Is Mine“ und „Wagging Tongue“, dessen erste Synthie-Akkorde direkt aus Kraftwerks „Trans Europa Express“-Periode ausgeliehen scheinen, und das nicht nur, weil sie es in Düsseldorf spielen. Schon dreht Dave Gahan Pirouetten, paradiert wie eine Eidechse in Mick Jaggers Terrarium, streicht sich die nassen Haare zurück. Martin Gore trägt ein Jackett mit Totenschädel-Muster, seine Fingernägel sind schwarz lackiert.
Depeche Mode in Düsseldorf: Raum einer Grabkammer der Leidenschaft
„Walking In My Shoes“ setzt die ersten Endorphine frei, den frühen Höhepunkt bildet aber „In Your Room“ vom „Songs of Faith and Devotion“-Album: Dieser Raum ist eine Grabkammer der Leidenschaften, der Sänger wird zum Lieblingsspiegel, zum Lieblingssklaven der Angebeteten, aber Gahans Bariton klingt an diesen Abend nicht so, als würde er sich von irgendwas oder irgendwem unterkriegen lassen.
Dann bricht mit der frühen Single „Everything Counts“ kurz die Sonne durch, zumindest wenn Martin Gores helle Stimme im Refrain die allgemeine Gier so hoffnungsfroh anprangert, als hätte er sie bereits überwunden. Gahan hält dazu den Fans den Mikrofonständer hin, die Masse wird zum harmonischen Chor, der Kapitalismus ist überwunden, nur die Drehorgelbegleitung, die Gore über den Fangesang legt, klingt wie ein höhnischer Kommentar.
Als er kurz darauf die erste seiner beiden obligatorischen Solonummern singt, wird der Komponist zum „Baby in unseren Armen“: Eine gelungene Beziehung sei eine Frage der Begierde und des Vertrauens, behauptet sein Song. Gibt es ein Liebesverhältnis, das länger von „lust and trust“ geprägt ist, als das zwischen Depeche Mode und seinen Fans? Gibt es eine andere Band, in deren Namen in jeder größeren Stadt seit vier Jahrzehnten monatliche Partys gefeiert werden?
Die dritte Zugabe führt zurück an den Anfang: „I just can’t get enough“, singt Dave Gahan und spielt noch einmal das junge Babyface des Jahres 1981, das nicht ahnt, wohin das Nicht-genug-kriegen-können führen wird. Jetzt will man nur noch mitsingen, ein Teil dieser Menge sein, Freak unter Freaks.
Zum Schluss rundet sich die Geschichte dieser Überlebenden, führt „Personal Jesus“ vom elektronischen Rheinufer ins bluesige Mississippi-Delta, von Kraftwerk zu Elvis, vom Synthie-Pop-Quintett zum Duo, das die Rockgeschichte neu geschrieben hat, als niemand mehr damit rechnen konnte. Ein denkwürdiger Abend.