Politikwissenschaftler Oliver W. Lembcke über die Gründe für den unerwarteten Aufschwung der Linken.
Der Aufschwung der Linken„Die Partei kann wieder vollen Herzens links sein“

Die Stimmung ist prächtig bei der Linken: Heidi Reichinnek (M), Spitzenkandidatin Die Linke, Jan van Aken, Spitzenkandidat und Parteivorsitzender, und Ines Schwerdtner (l), Parteivorsitzende, kommen im Haus der Bundespressekonferenz an.
Copyright: dpa
Herr Lembcke, ein überraschendes Ergebnis der Bundestagswahl ist der Höhenflug der Linken. Auch Sie haben noch im Oktober in einem Interview gesagt, die Partei befinde sich in einer Abwärtsspirale, die geradezu existenzgefährdende Züge besitze. Was ist in der Zwischenzeit passiert?
Das ist das Wunder, das wir 2021 bei der SPD erlebt haben. Die Linke war in einer schwierigen Situation: Die Landtagswahlergebnisse im Osten waren das eine, und kurze Zeit danach gab es den Antisemitismus-Streit, der offenbart hat, wie toxisch die Diskussionskultur in der Partei ist. Diese Probleme bestehen nach wie vor. Doch dann gab es eine neue Führung, was notwendig war, denn die alte Führung war schwach. Und dieser Wechsel geschah zum Wohle der Partei. Nun hat sie ein frisches Team, das viel präsenter ist. Die neue Führung hat sich bisher bewährt. Ob sie die Power aufbringt, auch langfristig für große Geschlossenheit zu sorgen, ist eine offene Frage.
Sehen Sie weitere Gründe für den Aufschwung?
Die Partei hat gemerkt, dass es um ihre Existenz geht. Dann kam sie auf die Idee der „Mission Silberlocken“. Das war zwar kein richtiger Rettungsanker, aber eine kluge Marketing-Strategie, ein glaubwürdiges Lebenszeichen: Wir wollen als Partei überleben. Dass Dietmar Bartsch das Mandat holt, war eine Mission Impossible. Hat er ja auch nicht. Aber als Zeichen war es wichtig. Das hat auch für eine interne Befriedung oder einen Waffenstillstand gesorgt, der zu einer Geschlossenheit geführt hat, die für jede Partei im Wahlkampf nötig ist. Man ist nicht in eine Angststarre verfallen und hat nicht aufgegeben.
Welche Rolle spielt die Gründung des BSW für den Erfolg der Linken?
Die Gründung des BSW haben ja zuerst viele als Verlust gedeutet, aber das war ideal für die Linke. Sahra Wagenknecht hat zuletzt als Falscher Fünfziger die Partei, die sie untergraben will, vertreten. Sie saß in allen Talkshows, nicht die frühere Spitze der Partei. Das konnte nur schiefgehen. Für die Linkspartei ist es gut, dass Wagenknecht weg ist. So konnte wieder die Message „Links heißt Links“ kommuniziert werden und nicht mehr „Mal links, mal rechts“. Die Partei kann wieder vollen Herzens links sein.
Für die Linkspartei ist es gut, dass Wagenknecht weg ist. So konnte wieder die Message „Links heißt Links“ kommuniziert werden
Die Linken haben den Grünen rund 700.000 Stimmen abgenommen, auch von der SPD sind viele zu ihr gewechselt. Ist die Linke in eine Lücke gestoßen, die SPD und Grüne gerissen haben?
Definitiv. Eine Reaktion der Grünen auf das Ampel-Aus war es ja, nicht den Kampf gegen Rechts voranzutreiben, sondern zu sagen „Der Wirtschaftsminister hat recht“, und wir machen so weiter wie bisher. Alle versammeln sich um Robert Habeck, der deutlich ins Zentrum gezogen ist. Das waren ja zum Teil keine Flirtversuche mit der Union, sondern ein Anbiedern. Da sind in der Hitze des Wahlkampfs zur Migration Dinge gesagt worden, die den Linken das Alleinstellungsmerkmal gegeben hat, als einzige Partei gesellschafts- und sozialpolitisch links zu sein. SPD und Grüne haben ihr massig Raum gelassen. Der Linken ist etwas gelungen, was ganz selten gelingt. Sie hat abstrakte Aussagen - „Tax the Rich!“; „Auf die Barrikaden!“ - mit Alltagsproblemen verbunden. Das ist eine Leistung: Preisentwicklung, Mieten, Inflation - das sind ja alles wichtige Themen. Es gibt genügend Resonanz für eine Linkspartei, aber man muss erkennen, wofür die Kapitalismuskritik steht.
Der Erfolg der Linken hat damit zu tun, dass sie die soziale Ungleichheit zum Thema gemacht hat?
Das Thema der Ungleichheit beschäftigt die Leute sehr stark. Auch hier haben die Grünen im Wahlkampf eine Menge Raum gelassen. Die Linken konnten daher in urbane Ballungszentren einbrechen und zum Beispiel besonders junge Frauen ansprechen, die früher grün gewählt hätten. Das Thema hat bei den Grünen im Wahlkampf deshalb nicht so starke Beachtung gefunden, weil die sich sehr wirtschaftsorientiert gegeben haben. Und das Sozialpolitische der SPD war ziemlich rentenlastig, da ging es um den Status quo. Damit haben beide Parteien für Fragen von Gleichheit und Ungleichheit Raum gelassen; und gerade auch im Westen hat die Linke da Wählerinnen und Wähler angesprochen.
War es also ein wichtiges Alleinstellungsmerkmal der Linken, die Migrationsdebatte nicht in den Mittelpunkt des Wahlkampfes zu stellen?
Eindeutig. Alle anderen haben versucht, sich da einzureihen. Und die Linke konnte links bleiben, was immer von ihrer Willkommenskultur zu halten ist, denn sie wird sie ja nicht umsetzen müssen. Es ist eine hochgradig polarisierte Debatte. Aber wenn die Linkspartei die 25 Prozent der Bevölkerung, die mit dem Ton der Debatte unzufrieden ist, ansprechen kann, ist das ein Gewinnerthema.
Das Thema der Ungleichheit beschäftigt die Leute sehr stark. Auch hier haben die Grünen im Wahlkampf eine Menge Raum gelassen
Viele werfen der Linken vor, populistisch zu sein, wenn sie etwa fordert „Tax The Rich!“.
Ja, klar ist das Populismus. Schauen wir ins Wahlprogramm der Linken: Ab einem Einkommen von 85.000 Euro im Jahr soll mit 53 Prozent plus Soli besteuert werden. Und Millionäre will man mit 75 Prozent besteuern. Das Bundesverfassungsgericht hat ab einer Besteuerung von mehr als 50 Prozent von einer erdrosselnden Wirkung gesprochen. Das heißt nicht, dass man so nicht besteuern kann, aber wenn man das machen will, muss man doch sagen, wie man sich mit der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts auseinandersetzen möchte, sonst ist es verfassungswidrig. Und wenn das nicht interessiert, ist es der Einstieg zum Populismus.
Haben Sie ein weiteres Beispiel?
Ähnlich ist es bei der Vermögenssteuer: Kann man erklären, wie man eine Vermögenssteuer rechtskonform einführen will und welche volkswirtschaftlichen Effekte man sich erhofft, ist der Vorschlag rechenschaftsfähig. Wenn man das nicht tut, entsteht der Eindruck, auf billige Weise Stimmen zu fangen. Das ist Ur-Populismus.
Gerade viele Unionspolitiker sprechen nun nach der Wahl von einer bedenklichen Stärkung der Ränder und setzen Linke und AfD gleich. Halten Sie das für zulässig?
Das ist ja die alte Hufeisendiskussion, die von Linken abgelehnt wird. Für Bürgerlich-Konservative ist das ein ganz normaler Sprech. Wenn es auf beiden Seiten Ränder gibt, kann man sie grundsätzlich auch vergleichen; vorausgesetzt man hat einen Vergleichsmaßstab, zum Beispiel die „Mitte“, verstanden als auf den Prinzipien der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit basierenden Bereich der Politik. Alles, was an den Rand rückt, müsste sich dann an diesem Maßstab messen und rechtfertigen lassen, um nicht extremistisch zu sein. Den Linken behagt das nicht, weil sie das Ziel haben, die Welt besser machen zu wollen und sich darin von den Rechten unterscheiden, denen sie vorwerfen, diese in Klump hauen zu wollen.

Politikwissenschaftler Oliver Lembcke lehrt an der Uni Bochum
Copyright: Guido Werner
Ist diese Debatte zielführend?
Man muss sagen, warum man diesen Diskurs führt. Tut man es, um die Linkspartei zu diskreditieren, indem man sie mit der AfD gleichsetzt, ist das kein starkes Argument. Wenn man aber diskutiert, welche Folgen eine Politik hätte, die auf Enteignung setzt, kann man schon fragen, welche Rolle dann der Staat einnehmen soll, wie sich das demokratisch vereinbaren ließe und welche Rolle das Recht spielt. Das ist zulässig. Aber AfD und Linke einfach so gleichzusetzen, damit kommt man nicht weiter.
Die ganze Partei und besonders Spitzenkandidatin Heidi Reichinnek sind gerade in den Sozialen Netzwerken sehr erfolgreich. Wie wichtig war das für den Erfolg?
Natürlich sind die Jüngeren, die man dort erreicht, für eine Partei eine interessante Zielgruppe, bei der es um die Fünf-Prozent-Hürde geht. Wenn man die auf eine besonders starke Weise anspricht, kann das den Unterschied ausmachen. Und dafür braucht es eine glaubwürdige Ansprache in den sozialen Medien. Da ist Heidi Reichinnek offenbar besonders gut – und ein politischer Gewinn, und zwar auch deswegen, weil andere Parteien – mit Ausnahme der AfD – auf diesem Gebiet so schlecht sind. Man darf das nicht nur für Kampagnen nutzen, sondern muss gewissermaßen in den sozialen Netzwerken zu Hause sein.
Die Linke wurde von vielen lange vor allem als SED-Nachfolge-Partei betrachtet. Ist das noch ein Thema?
Das nimmt definitiv ab, deswegen ist auch die Ansprache der Jugend wichtig, weil man dadurch ein neues Image gewinnt.
Professor Oliver W. Lembcke lehrt Politikwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum. Er ist ferner Research Fellow an der VU Amsterdam und gehört zum Sprecherteam des Arbeitskreises „Politik und Recht“ der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft (DVPW). Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen unter anderem die Bereiche der Demokratieforschung, der empirischen Rechtsforschung sowie der Politischen Theorie und Ideengeschichte.