Der Dichter Georg BüchnerMelancholie und Revolte

Es gibt sie immer noch, die legendären Dachbodenfunde. Diese Bleistiftzeichnung von Albert Hoffmann jedenfalls, die höchstwahrscheinlich Büchner im Jahre 1833 zeigt, wurde vor wenigen Wochen auf einem Dachboden in Gießen entdeckt.
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„Ich verlange in allem Leben, Möglichkeit des Daseins“, lässt Georg Büchner den ihm seelenverwandten Sturm-und-Drang-Dichter Lenz in seiner gleichnamigen Erzählung sagen. Damit ein künstlerisches Gebilde aber lebendig wirke, sei es notwendig, „in das eigentümliche Wesen jedes einzudringen“, vorurteilslos und ohne Rücksicht auf Stand und Aussehen einer Person, sondern schlicht aus Liebe zur „Menschheit“
Den hiermit geforderten Versuch, „sich in das Leben des Geringsten“ zu versenken, realisierte Büchner bereits mit der Gestaltung seiner Titelfigur: Die psychische Erkrankung, deretwegen sich Lenz hilfesuchend im Januar 1778 ins elsässische Waldersbach zu dem Pfarrer Oberlin begibt, wird schon während seiner Wanderung durch die Vogesen offenkundig, das sie ankündigende Gefühl („Müdigkeit spürte er keine, nur war es ihm manchmal unangenehm, dass er nicht auf dem Kopf gehen konnte“) aber eher sachlich der Beschreibung der Winterlandschaft eingepasst.
Erst dann verbinden sich die Impressionen der Natur mit den Symptomen der Psychose, von der sich Lenz letztlich nicht mehr zu erholen vermag. „So lebte er hin“, lautet das nüchtern-trostlose Fazit seines Verfallsprozesses, der ihn zu einem der Geringsten macht und in dessen Darstellung sich eine gesamtgesellschaftliche Krise ausdrückt. Das hat zur Modernität des Werks beigetragen, mit dessen fulminantem Anfang Arnold Zweig 1918 „die moderne europäische Prosa“ eingeleitet sah.
Stadtsoldat Woyzeck
Zu den Geringsten zählt sicher auch der Stadtsoldat Woyzeck. Zwar ist sein Drama nur in Bruchstücken überliefert, aber die einzelnen Szenen geben das Bild eines Mannes zu erkennen, der von der geballten repressiven Gewalt sozialer Institutionen zugrunde gerichtet wird, des Militärs und der Wissenschaft z.B., die der Hauptmann und der Doktor als ihre exemplarischen und deshalb namenlosen Vertreter repräsentieren.
In diesem Zusammenhang wird auch das kantianische Vernunftpostulat des Doktors – „Die Natur! Woyzeck, der Mensch ist frei, in dem Menschen verklärt sich die Individualität zur Freiheit“ – durch die im Stück geschilderten sozialen Bedingungen, unter denen Woyzeck seine Existenz zu fristen hat, als hohle Phrase entlarvt. Wahr ist hingegen, dass der ausgebeutete und gedemütigte Woyzeck durch die Untreue seiner Marie („hab sonst nichts – auf de Welt“) seinen Lebenssinn verliert: Ohnmächtig bringt er die Geliebte um. Der Schwache lässt seine verzweifelte Wut an dem noch Schwächeren aus, seiner Frau.
Gefesselt in kleinbürgerlicher Enge und mittellos, kann Marie nur über die Attraktivität ihres Körpers Selbstbestätigung erlangen. Zwar quälen sie Gewissensbisse beim Anblick ihres Kindes. Dem Vorbild der reuigen Sünderin Maria Magdalena aber vermag sie nicht zu folgen, „hinfort nicht mehr“ zu sündigen ist ihr nicht möglich. Sie beharrt darauf, ihre sexuellen Bedürfnisse auszuleben – was für die Zeit der Metternich’schen Restauration ungeheuer provokant war.
Dantons Tod
Demgegenüber ist das Schicksal der Frauenfiguren in „Dantons Tod“ noch untrennbar mit dem ihrer Männer verknüpft, aber immerhin im beschränkten Rahmen ihre Wahlmöglichkeiten selbstbestimmt: Julie, die Frau des Revolutionärs Danton, liebt diesen so bedingungslos, dass sie sein politisches Scheitern im Verlauf der Revolution mit ihm teilt; das Verlangen nach gemeinsamem Glück, das ihr diese versagt, löst sie mit dem Tod ein, in den sie ihren Mann „nicht alleine gehen“ lässt. Lena schließlich, die weibliche Titelfigur der Komödie „Leonce und Lena“, empfindet, da sie einen ungeliebten Mann aus Gründen der Staatsraison heiraten soll, tiefen Schmerz, den sie ins Kosmische projiziert in der Annahme, „die Welt sei ein gekreuzigter Heiland, die Sonne seine Dornenkrone“. So gewinnt sie wie Lenz aus persönlicher Betroffenheit die allgemeine Erkenntnis einer Selbsterlösung durch das Leiden.
Der hessische Landbote (Flugschrift, zusammen mit Friedrich-Ludwig Weidig)
Dantons Tod (Drama)
Lenz (Erzählung)
Lucretia Borgia (Übersetzung des Dramas von Victor Hugo)
Maria Tudor (Übersetzung des Dramas von Victor Hugo)
Leonce und Lena (Lustspiel)
Woyzeck (Dramenfragment)
Das Drama über Pietro Aretino ist verschollen.
Büchners expressiver Darstellung der Geringsten ist die satirische Schilderung der ihr Leben bestimmenden Mitglieder der „abgelebten modernen Gesellschaft“ eingeschrieben. „Modern“ ist diese insofern, als sich die längst „abgelebten“, seit 1814 aber wieder restaurierten Fürstengeschlechter mit der Bourgeoisie im überholten Absolutismus verbünden.
Ihr vorrangiger Daseinszweck bestehe im Bemühen, „sich die entsetzlichste Langeweile zu vertreiben“, die offensichtlich ein klassenübergreifendes Phänomen ist: Der Bürger Danton erklärt seine politische Passivität mit dem erbärmlichen Rhythmus des Immergleichen, der sich in der außer Kontrolle geratenen Mechanik der Guillotine symbolisiert. Der Pastorensohn Lenz fühlt sich durch die rigiden Anforderungen protestantischer Arbeitsmoral gepeinigt, die ihn zum Genussverzicht zwingt, und leitet alles Tun und Treiben aus der Langeweile ab – wie auch der Erbprinz Leonce, dessen Lebensgefühl vom Eindruck einer universellen, indes arbeitsfreien Monotonie geprägt ist.
Langeweile und Melancholie
Die vielfältigen Erscheinungsformen der Langeweile verdichten sich in der zeittypischen Stimmungslage der Melancholie, von der Büchner selbst nicht frei war. Hervorgerufen wird sie genauso durch die restriktiven politischen und sozialen Verhältnisse wie durch den Verlust geistig-moralischer Orientierungen und metaphysischer Gewissheiten nach der Aufklärung.
Der seit 1923 vergebene Literaturpreis ist der bedeutendste in der Bundesrepublik Deutschland.
In Hessen gibt es mehrere Schulen, die nach ihm benannt sind. Wie u.a. auch in Berlin, Bremerhaven, Kaarst und Seelze.
Diverse Straßen wie in Bremen, Frankfurt am Main, Gera, Gießen, Jena, Magdeburg und Rostock wurden nach ihm benannt.
In der DDR wurde 1967 ein Fracht- und Ausbildungsschiff nach ihm benannt.
Büchner selbst betonte stets diesen Zusammenhang. Er wird sogar noch sichtbar, wenn er sich, da ihm Reformen zur Verbesserung der sozialen Zustände nicht mehr zu fruchten scheinen, zur Revolution bekennt; um „die große Klasse“ dafür zu bewegen, gebe es nur „zwei Hebel, materielles Elend und religiöser Fanatismus“. Das 20. Jahrhundert wird diese Ansicht des 22-Jährigen weitgehend bestätigen.
Aber auch den Fortbestand der modernen Gesellschaft im spätabsolutistischen Fürstenstaat sieht er sowohl durch dessen machtpolitische Instrumente gewährleistet als auch durch die ihn rechtfertigende idealistische Philosophie und das über die real existierende Misere hinwegspielende biedermeierliche Theater. Ihm stellt Büchner eine Dramaturgie des Dokumentarischen entgegen. Indem er auf Zeugnisse aus der Französischen Revolution, Gerichtsgutachten, Tagebücher zurückgreift, verleiht er Bühnenhandlung und -personal ein hohes Maß an Authentizität, an Lebensechtheit. Das entspricht seiner Forderung an den dramatischen Dichter, „der Geschichte, wie sie sich wirklich begeben, so nahe als möglich zu kommen“.