Ist Deutschland ein Land ohne Revolutionäre? Der Historiker Heinrich August Winkler räumt in seinem neuen Buch mit einem Klischee auf.
„Die Deutschen und die Revolution“Eine fesselnde Abhandlung, die Bismarck und Lenin widerlegt
Die Auffassung, dass die Deutschen zur Revolution habituell unfähig seien, ist weit verbreitet. Sie kauften, spottete Lenin, wenn sie einen Bahnsteig stürmen wollten, erst eine Bahnsteigkarte. „Revolutionen machen in Deutschland nur die Könige“, soll Bismarck gegenüber dem französischen Kaiser Napoleon III. geäußert haben. Er musste es wissen, tatsächlich trug die maßgeblich von ihm ins Werk gesetzte Reichsgründung von 1871 Züge einer Revolution von oben. Schließlich die im Triumphgefühl der gelungenen nationalsozialistischen Machtergreifung getätigte Aussage von NS-Propagandaminister Joseph Goebbels, dass mit dem Jahr 1933 das Jahr 1789, also die Französische Revolution, aus der Geschichte gestrichen werde.
Spätestens hier wird die Sache allerdings kompliziert: Zweifellos stand „1789“ ideenpolitisch für all das, was die Nazis ablehnten und hassten. Trotzdem trug auch ihre Eroberung der politischen Macht in Deutschland samt ihrer tiefgreifenden Folgen Züge einer Revolution. Revolutionen, mit Ralf Dahrendorf verstanden als „politische und soziale Wandlungen, die unter Anwendung von Gewalt extrem rasch verlaufen und äußerst tiefgehende Wirkungen zeitigen“, müssen schließlich – entgegen dem marxistischen Mythos – nicht unbedingt etwas Gutes und Fortschrittliches sein. Es kann sich mit ihnen auch eine Rolle rückwärts verbinden – bis hin zum Zivilisationsbruch extremen Ausmaßes.
Heinrich August Winkler ist womöglich der prominenteste lebende Vertreter seiner Zunft
Aber auch abgesehen von 1933 war das Verhältnis der Deutschen zur Revolution durchaus komplex, uneindeutig, ambig. Da gibt es so schnell keine Erkenntnis, bei der nicht auch ihr Gegenteil zutreffend wäre. Der Berliner Historiker Heinrich August Winkler, womöglich der prominenteste lebende Vertreter seiner Zunft in Deutschland, beleuchtet es in diesem Sinne in seinem neuen Buch „Die Deutschen und die Revolution. Eine Geschichte von 1848 bis 1989“. Dabei handelt es sich nicht um eine großangelegte historische Untersuchung, sondern vielmehr einen pointierenden Essay. Der ist gedankenreich, abwägend und doch entschieden im Urteil, im Stil gewohnt fesselnd und geschmeidig und hält sympathische Distanz zum elitären Wissenschaftsjargon.
Immerhin hat die Geschichte des angeblich revolutionsabstinenten Landes fünf revolutionäre Ereigniskomplexe aufzuweisen, die auch Winklers Darstellung im chronologischen Sinne gliedern. Sie verbinden sich mit den Jahreszahlen 1848/49, 1871, 1918/19, 1933 und 1989. Die weiland beliebte „frühbürgerliche Revolution“ des 16. Jahrhunderts lässt der Verfasser links liegen – schade, eine wenigstens kursorische Erörterung hätte das eigene Argumentationsdesign womöglich noch schärfen können. Zwei der genannten Revolutionen – 1848/49 und 1918/19 – scheiterten oder gelangen nur halb, aber die drei anderen? Niemand wird aus heutiger Sicht bestreiten wollen, dass Bismarcks Reichsgründung, Hitlers „Machtergreifung“, schließlich der Sturz der SED-Diktatur samt Mauerfall erfolgreich waren. Deutschland, Land ohne Revolution?
Deutschland war zu weit entwickelt für den klassischen Hau-Ruck-Umsturz
Freilich, eine dem Modell der Französischen folgende Revolution mit viel Blut, mit Bürgerkrieg, Hinrichtungen, Schurken und Märtyrern gab es östlich des Rheins tatsächlich nicht. Winkler macht dafür plausible Gründe geltend: Die heute noch faszinierenden „heroischen“ Revolutionen von 1789 und 1917 (in Russland) fanden in gesellschaftlich unterentwickelten, vormodernen Ländern statt. Ein solches Land war Deutschland im 19. Jahrhundert aber nicht mehr. Die Komplexitätsexplosion eines fortgeschrittenen, wirtschaftlich, gesellschaftlich und politisch hoch-interdependenten Gemeinwesens ließ „klassische“ Hau-Ruck-Umstürze einfach nicht mehr zu. Das Reformparadigma ersetzte gerade im Handeln derer, die sich vielleicht anders hätten entscheiden können – der bürgerlichen Liberalen von 1848, der Sozialdemokraten von 1918 – das Revolutionsparadigma.
Winkler verweigert sich damit allzu einfachen, womöglich auf Völkerpsychologie rekurrierenden Erklärungen der deutschen Revolutionsabstinenz. Und in Anwendung der für seine Gedankenentwicklung typischen Zwar-Aber-Figur benennt er auch die Kosten für den und sei es aus nachvollziehbaren Gründen erfolgten Verzicht auf revolutionäre Konsequenz. Zu ihnen gehören etwa die nicht beseitigten Überhänge des wilhelminischen Obrigkeitsstaates, die das Scheitern der Weimarer Republik begünstigten. Hier setzten sich jene Kontinuitätslinien fort, in deren Zeichen bereits im 19. Jahrhundert eine Fundamentalliberalisierung der politischen Kultur in Deutschland blockiert worden war.
Winklers Standpunkt und Perspektive sind voraussetzungsreich – hier spricht, das muss man wissen, ein Mann der „Mitte“, ein konservatives SPD-Mitglied, ein Mehrheitssozialdemokrat, wie man vor Zeiten gesagt hätte. Wer diese Position nicht teilt, wird in der Beurteilung gerade der in Rede stehenden historischen Weichensituationen möglicherweise zu anderen Einschätzungen kommen. Im Übrigen präsentiert der Verfasser im narrativen Ablauf keine grundstürzenden Neuigkeiten, das Buch erschließt auch nicht unbekannte, interpretatorische Neuansätze beflügelnde Quellen. Als Matrix diente dem Verfasser erkennbar immer wieder seine eigene voluminöse Darstellung über Deutschlands „langen Weg nach Westen“. Rang und Reiz gewinnt die Darstellung aber aus der vergleichend-überwölbenden Zusammenschau des Disparaten. Und hier gelingen immer wieder Einsichten, die die Diskussion anzutreiben in der Lage sind.
Heinrich August Winkler: „Die Deutschen und die Revolution. Eine Geschichte von 1848 bis 1989“, C.H. Beck, 176 Seiten, 24 Euro