20 Jahre nach seinem Tod wird der Fotograf Dirk Reinartz im LVR-Landesmuseum Bonn mit einer überfälligen Retrospektive geehrt.
Dirk Reinartz im LVR-Landesmuseum BonnWoanders ist es auch nicht schöner
Als der 22-jährige Dirk Reinartz aus dem belgischen Spa heimkam, hatte er die üblichen Aufnahmen vom 1000km-Rennen gemacht: rasende Boliden, verwischte Bilder, Helden im Menschenbad. Eine Fotografie stach jedoch heraus. Sie zeigt einen Besucher, der im Kofferraum seines Kleinwagens an einem Klapptischchen hockt und Essen aus einer Schüssel löffelt. „Lenkersmahlzeit“ schrieben die Witzbolde aus der „Stern“-Redaktion darunter. Reinartz dürfte es damals egal gewesen sein.
Keine zwei Jahre später stellte der „Stern“ den Fotografiestudenten als Bildreporter ein. Jetzt flog Dirk Reinartz um die halbe Welt, illustrierte Berichte aus Grönland, Indonesien oder dem nordirischen Bürgerkrieg – und fand es fürchterlich. 1977 kündigte er seine hoch dotierte Stelle, um als Mitgesellschafter der Fotoagentur Visum größeren Einfluss auf seine Themen und die Gestaltung seiner Fotostrecken zu gewinnen. Das gelang ihm jedoch nur zur Hälfte: Zwar war Reinartz jetzt näher an den Dingen, die ihn bewegten, etwa an den Menschen, die in Hochhaussiedlungen vereinsamten oder im Ausländeramt auf die lange Bank geschoben wurden. Aber seine Bilderserien wurden im „Stern“ oder dem „Zeit“-Magazin weiterhin als Textbegleitung auf Magazinformat gestutzt.
Die Museumswelt, Fluchtpunkt aller konzeptionell denkenden Fotografen, blieb Dirk Reinartz verschlossen
In gewisser Hinsicht ist Dirk Reinartz (1947-2004) ein typischer Fall der in den Grenzen des Bildjournalismus gefangenen Reportagefotografie. Gleichzeitig ist er ein prominentes Beispiel, weil ihm der Absprung in den Markt der Fotobücher gelang. 1989 erschien bei Steidl „Kein schöner Land“, ein Buch ohne Heimatgefühle, aber auch ohne Häme über zersiedelte Landschaften und vermauerte Innenstädte. Danach brachte Reinartz weitere Bücher etwa über den Hamburger Stadtteil St. Georg, die deutschen Konzentrationslager oder Bismarckdenkmäler heraus. Lediglich die Museumswelt, Fluchtpunkt aller konzeptionell denkenden Fotografen, blieb dem früh verstorbenen Reinartz bis auf wenige Ausnahmen verschlossen.
20 Jahre nach seinem Tod wird Dirk Reinartz jetzt mit einer überfälligen und üppigen Retrospektive geehrt. Von den 370.000 Negativen, 100.000 Dias und 10.000 Abzügen seines Nachlasses sind im LVR-Landesmuseum Bonn zwar nur 350 Aufnahmen zu sehen. Aber die Auswahl zeigt den ganzen Reinartz, wenngleich wiederum überwiegend im gestutzten Magazinformat. Auch die Kunstwelt hat eben ihre natürlichen Grenzen; dass die Kuratoren zwei Säle für jeweils eine einzige Fotostrecke reservierten, ist hingegen ein Luxus, den sich die wenigsten Ausstellungshäuser leisten können.
In der einen Galerie blättern die Kuratoren Reinartz‘ Buch „Totenstill“ über die historischen Reste der deutschen Konzentrationslager auf. Auch diese Arbeit ging auf einen Auftrag des „Zeit“-Magazins zurück: Aus dem „Langen Tag in Terezin“ wurde ein stilles Gedenken, das die Schauplätze der Shoah in einem ganz auf die Architektur fokussierten Trauerbuch zusammenfasst. Gegen das Verdrängen der deutschen Schuld setzte Reinartz das anklagende Schweigen von Zellen, Baracken, Gleisen oder Stacheldraht – die Ortsnamen sprechen oftmals bereits für sich.
Ein ästhetisches Gegenprogramm wird in der zweiten exklusiven Galerie entworfen. Hier begegnen einem in großen Leuchtkästen die Farbbilder, die Reinartz in den 70er Jahren während einer Reise durch Amerika aufnahm. Offenbar im Bann der „New Colour Photography“ wechselte Reinartz für einen klassischen Roadtrip vom gewohnten Schwarz-weiß-Film zu Kodachrome-Dias und ließ sich in seiner Bildauswahl vom Farbspektrum auf Raststätten, Tankstellen oder Rastplätzen leiten. Vor die Wüstenlandschaft mit ihren Blau- und Brauntönen schieben sich die Produktfarben der mobilen Gesellschaft. Als Sinnbild für Amerika fotografiert Reinartz einen metallicgrünen Pickup-Truck mit Colaflasche auf dem Armaturenbrett und Sternenbanner am Außenspiegel.
An dieser Entzauberung magisch aufgeladener Erzählungen arbeitete Reinartz auch in Deutschland
Das bislang unveröffentlichte „Action Theatre“ zeigt, wie der Frontier-Mythos der USA als leeres Versprechen weiterlebt – die Sehnsucht nach dem unentdeckten Land führt stets nur zur nächsten Haltestelle einer alles vereinnahmenden Zivilisation. An dieser Entzauberung magisch aufgeladener Erzählungen arbeitete Reinartz auch in Deutschland, wenngleich im Maßstab einer kritischen Heimatkunde.
Sein Porträt des Hamburger Stadtteils St. Georg zeigt ein Deutschland, in dem Armut und Verwahrlosung in den Seitenstraßen des Wirtschaftswunders gedeihen (eine Auftragsarbeit des „Merian“, der die Serie schließlich als „zu grafisch“ ablehnte), seine dokumentarische Reihe über Bismarckstatuen führt diese als aus der Zeit gefallene, vom Stadtmobiliar zugewucherte Relikte eines glücklich verdrängten, aber niemals ganz vergangenen falschen Nationalbewusstseins vor.
An oberflächlicher Schönheit war Dirk Reinartz so wenig interessiert wie an deren billiger Entlarvung; seine schwarz-weißen Aufnahmen lassen stets Raum für Grautöne. Vermutlich hat sich die Braut, die ganz in Weiß in der Abstellkammer einer Kneipe sitzt, ihren schönsten Tag im Leben anders vorgestellt. Aber mit diesem Bild aus einer Serie über das Kleinstadtleben wollte er dieses sicher nicht denunzieren. Er zeigt stattdessen die Hinterbühne des kleinen Glücks.
Ansonsten war Reinartz kein großer Menschenfotograf. Auf seinen besten Bildern werden diese von den versteinerten Verhältnissen an den Rand gedrängt, wie die alte Frau, die uns vor einer Häuserwand mit gesprühtem „Deutschland“-Schriftzug den Rücken kehrt. Solche Bilder haben nicht den Anschein, dass Reinartz an seiner Heimat litt – dazu versorgte sie ihn vielleicht auch zu verlässlich mit Motiven einer fotogenen Unwirtlichkeit.
Aber er stieß sich an den Verhärtungen im Stadtbild, vor denen man als Passant eine beklemmende Ohnmacht spürt. Das konnte eine Parkbank sein, auf der „Nur für Deutsche“ steht, oder ein verlorenes Spielzeug im zubetonierten Siedlungshof. Andererseits sah Dirk Reinartz beinahe überall einen Hoffnungsschimmer. Bei ihm ist die schäbige Imbissbude vor Industriekulisse nicht nur ein Zeichen der Entfremdung. Sondern auch eine letzte Einkehr, eine Oase der menschlichen Gemeinschaft.
„Dirk Reinartz. Fotografieren, was ist“, LVR-Landesmuseum, Colmantstr. 14-16, Bonn, Di.-So. 11-18 Uhr, bis 25. September 2024. Der Katalog erscheint im Laufe der Ausstellung und kostet 38 Euro.