DokumentarfilmMänner ohne Vergangenheit
- Regina Schilling porträtiert die versehrte Generation der deutschen Fernseh-Showmaster
Es ist nur ein Spiel. Ein junger Mann soll in einer Szene der Show „Einer wird gewinnen“ mit einer Pistole Luftballons zum Platzen bringen. Doch ihm gelingt kein einziger Treffer. „Ich bin auch kein Schütze“, sagt er mit Bedauern in der Stimme. „Ich freue mich darüber“, entgegnet Hans-Joachim Kulenkampff. Die beste Armee sei ohnehin eine mit lauter Soldaten, die nicht schießen könnten.
Krieg und Unterhaltungsshows, das passt nicht zusammen. Ja, das scheint sich gegenseitig auszuschließen. Die Kölner Regisseurin Regina Schilling beweist nun in ihrem eindrucksvollen Dokumentarfilm „Kulenkampffs Schuhe“, dass beides im Nachkriegsdeutschland viel enger miteinander verknüpft war, als es den Anschein hatte.
Als Schilling erfuhr, dass sich Deutschlands großer Fernsehstar, der für sie dank seiner Besuche im heimischen Wohnzimmer schon fast zur Familie gehörte, als junger Soldat in Russland vier erfrorene Zehen mit dem Taschenmesser abgeschnitten hatte, war die Idee für ihren neuesten Film geboren. „Die Vorstellung, dass sich unter Kulenkampffs eleganten Lederschuhen ein verkrüppelter Fuß verbarg, ließ mich nicht los. Dieses Bild erscheint mir eine Metapher zu sein für alle Erwachsenen, die in meiner Kindheit eine Rolle spielten“, sagt sie. „Sie alle verbargen etwas unter der schönen Fassade des Wirtschaftswunders. Als Kind konnte ich das nur spüren, nicht in Worte fassen.“
Sie begann zu recherchieren und stellte fest, dass Kulenkampff in erstaunlichen vielen Szenen seiner Show Witze oder Bemerkungen über den Krieg machte. Etwa, wenn er, als es in einem Spiel, in dem es um Wodka ging, sagte: „Das einzige Mal, dass ich es nicht bereue, in Russland zu sein.“ Schilling, Jahrgang 1962, verstand solche Andeutungen als Kind nicht. Sie saß am Samstagabend mit ihrer Familie vor dem Fernseher und genoss die Shows, die die große weite Welt ins Wohnzimmer brachten. „Am Samstagabend war alles gut“, heißt es in ihrem Film (Sprecherin: Maria Schrader). Kulenkampff war für sie ein Mann ohne Vergangenheit. „Er existierte nur im Moment der Show.“
Für ihren Vater, Jahrgang 1925, der ebenfalls Soldat gewesen war, war das anders. Für ihn seien Moderatoren wie Kulenkampff, Peter Alexander und Hans Rosenthal Therapeuten gewesen. Und so wählt Schilling einen sehr persönlichen Zugang zu diesem Kapitel deutscher Geschichte und gewährt so interessante Einblicke. Sie erzählt die Lebensgeschichte ihres Vaters – ein hart arbeitender Katholik, der in der Wirtschaftswunderzeit als Drogist erfolgreich war und nie über den Krieg sprach – parallel zum Leben der großen TV-Stars der damaligen Zeit.
Ihr Film besteht vollständig aus Archivmaterial (Montage: Jamin Benazzouz). Anhand von zahlreichen Showausschnitten von damals, Interviews, privatem Super-8-Material, historischen Dokumenten und Fotos zeigt sie, wie Kulenkampff und seine Kollegen einer Generation Traumatisierter, zu der sie selbst gehörten, ein paar Stunden Ablenkung und Heiterkeit schenkten. Eine heile Welt gegen die Geister der Vergangenheit.
Dabei waren die großen Fernsehstars selbst schwer gezeichnet. Allen voran Hans Rosenthal, wie Schillings Vater Jahrgang 1925. Früh Vollwaise geworden, musste der jüdische Junge aus Berlin ertragen, dass sein kleiner Bruder von den Nazis deportiert und ermordet wurde. Er selbst überlebte nur durch Glück, versteckte sich mehr als zwei Jahre in einer Schrebergartensiedlung und hielt nur durch, weil er an dem Glauben festhielt, der Krieg müsse bald vorbei sein.
Nach dem Krieg wollte Rosenthal eigentlich politische Berichterstattung beim Radio machen. Doch er wechselte in die Unterhaltung und wurde mit Shows wie „Dalli Dalli“ ein großer Star. Seine Jugend durfte da kein Thema sein. Schließlich ging es um Ablenkung und gute Laune. Doch als er am 40. Jahrestag des Novemberpogroms seine Show moderieren musste, obwohl er das ZDF um einen anderen Sendetermin gebeten hatte, trug er aus stillem Protest einen schwarzen Anzug und ließ keine fröhlichen Schlagerstars, sondern Opernsänger auftreten. Ansonsten stand die bunte Fassade der Shows meistens unangetastet. Sie waren ein nationales Ereignis, erzielten Einschaltquoten von mehr als 80 Prozent.
Schilling hätte ihren Vater gerne gefragt, ob er beim Anschauen der Sendungen darüber nachdachte, was die Moderatoren während der Kriegsjahre erlebt hatten, ob sie immer noch davon träumten. Doch sie erhielt dazu keine Gelegenheit. Ihr Vater starb mit nur 47 Jahren an einem Herzinfarkt.
Zur Person
Regina Schilling, Jahrgang 1962, lebt und arbeitet in Köln und Berlin. Sie studierte Literaturwissenschaften und Pädagogik. Seit 1997 ist sie freiberuflich als Journalistin, Kinder- und Jugendbuchautorin sowie Dokumentarfilmerin tätig; beim Literaturfestival lit.Cologne arbeitete sie am Programm mit. Für ihren Dokumentarfilm „Geschlossene Gesellschaft – Der Missbrauch an der Odenwaldschule“ wurde sie 2012 mit dem Grimme Preis ausgezeichnet.
Das Erste zeigt Regina Schillings Dokumentarfilm „Kulenkampffs Schuhe“ am Mittwoch um 22.30 Uhr. (ksta)