Bestseller-Autorin über Mittelalter-RomaneBloß keine Parallelen zur Gegenwart ziehen
London – Die Zettel sind weg. Rebecca Gablé klopft die Taschen ihrer Jeans ab. Vordere Tasche, hintere Tasche. Nichts. Die Zettel sind weg. Doch selbstverständlich weiß sie auch so, wo wir uns – kaum eine Woche vor dem Tod von Queen Elizabeth II. – befinden. In der Westminster Hall, dem ältesten Teil des Palace of Westminster, in dem das britische Parlament seinen Sitz hat. Nur wenige Besucher verlieren sich an diesem Tag in der einst größten Halle von England, die 1834 einen verheerenden Brand des mittelalterlichen Palastgebäudes überstand. Und die den Schauplatz von zwei Schlüsselszenen in Rebecca Gablés neuem Historienroman „Drachenbanner“ darstellt.
Das mehr als 900 Seiten starke, bestens recherchierte Werk, das soeben im Kölner Lübbe-Verlag erschienen ist, ist der mittlerweile siebte Band um die englische Familie Waringham und behandelt die weitgehend glücklose Regentschaft von König Henry III. Er regierte zwar keine 70 Jahre wie die gerade verstorbene Queen, hielt sich aber immerhin 56 Jahre auf dem englischen Thron. Im Zentrum des Geschehens stehen die Hofdame Adela of Waringham und Bedric Archer, ein Leibeigner, der sich durch Flucht seiner Knechtschaft entzieht und ein freier Mann wird. Beider Lebenswege sind eng mit Henrys Schicksal verknüpft.
Rebecca Gablé beschreibt Geburtsstunde des englischen Parlaments
Doch gehen wir zurück in das Jahr 1258. Und stellen uns vor, dass die Westminster Hall überfüllt, die Luft schwer und stickig ist. Henry, ein kunstsinniger Feingeist mit wenig Talent zum Regieren, treibt England durch immer neue Geldforderungen in den Ruin. Mehrere erfolglose Feldzüge und seine Pläne zur Eroberung Siziliens haben Unsummen verschlungen, für die sein Volk bluten soll. Schließlich platzt einer Gruppe Adeliger der Kragen. Unter der Führung von Simon de Montfort nötigt sie Henry während einer Sitzung in eben jener Westminster Hall, in der wir gerade stehen, eine geradezu revolutionäre Zusage ab: Fortan bedürfen die Entscheidungen des Königs der Zustimmung „eines neuen Kronrats, der aus 24 klugen und weitsichtigen Engländern bestehen soll“.
Der Alleinherrschaft der Regenten ist damit ein – vorläufiges – Ende gesetzt: Erstmals in der Geschichte Englands erhält der Hochadel ein Mitspracherecht über die Geschicke des Landes. Im März 1265 findet abermals in der Westminster Hall eine erste Parlamentssitzung statt, an der auch Bürgerliche, darunter der ehemalige Leibeigene Bedric, teilnehmen dürfen. Was Rebecca Gablé mit Fug und Recht und ganz ohne Zettel als Geburtsstunde des späteren britischen Parlaments interpretiert: „Vermutlich gäbe es das heutige Parlament in dieser Form sonst gar nicht.“ Indes: Noch im selben Jahr nimmt ein wiedererstarkter König sämtliche Zugeständnisse, die er 1258 und 1259 in den „Provisions of Oxford“ und den „Provisions of Westminster“ gemacht hat, zurück und provoziert damit den „Zweiten Krieg der Barone“. Dessen Niederschlagung besiegelt wenig später das vorläufige Ende des politischen Experiments.
„Drachenbanner“ will die Welt so zeigen, wie sie früher war
Eingebettet in die historischen Ereignisse ist die Liebesgeschichte von Adela of Waringham und Bedric Archer. Adela ist die Hofdame von Henrys Schwester Eleanor, die wiederum mit Simon de Montfort verheiratet ist. Ob eine Liebesbeziehung zwischen einer Adeliger und einem Ex-Leibeigenen im 13. Jahrhundert möglich war – sei’s drum. Auszuschließen ist das nicht. Und aus kompositorischen Gründen allemal erlaubt. Sie mache immer wieder die Erfahrung, dass reine Geschichtslektionen viele Menschen langweilten, sagt Rebecca Gablé im Gespräch. Sie wirkten eben allzu verstaubt und allzu trocken. „Wenn man Geschichte aber anhand von Personen nahebringt, wird sie lebendig und interessant.“ Sie versuche, sich komplett in die Köpfe und die Denkweise ihrer Protagonisten zu versetzen und „die Welt so zu sehen, wie sie früher war“ – ein Konzept, auf das die Autorin mit dem französisch anmutenden Pseudonym seit 25 Jahren vertraut.
Im Jahre 1997 erschien der erste Band der Waringham-Saga „Das Lächeln der Fortuna“ – und katapultierte die studierte Anglistin und Germanistin in die erste Reihe der deutschsprachigen Historienschreiber. Inzwischen hat sich die Geschichte der Waringhams zu einer kapitalen und äußerst erfolgreichen Reihe ausgewachsen, die den Zeitraum zwischen dem 12. und dem 16. Jahrhundert abdeckt.
Autorin kommt nicht von Waringham-Saga los
„Ich komme nicht los von dieser Familie und will immer wissen, wie es weitergeht mit ihr“, sagt Rebecca Gablé. Gerade der aktuelle Band, eine Fortsetzung von „Teufelskrone“ über die Entstehung der „Magna Charta“, habe ihr am Herzen gelegen. Denn darin werde der Beginn einer politischen Entwicklung geschildert, deren Folgen bis in die heutige Zeit reichen.
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Parallelen zur Gegenwart zu ziehen, lehnt die Autorin allerdings strikt ab. „Ich will die Menschen über das Mittelalter aufklären und eventuell mit dem ein oder anderen Missverständnis aufräumen.“ In dieser Beziehung habe sie durchaus „ein gewisses Sendungsbewusstsein“, doch Handlungsanweisungen wolle sie damit gewiss niemandem an die Hand geben. Natürlich könne man Lehren aus der Vergangenheit ziehen, doch das seien zumeist Binsenwahrheiten. „Es sind Dinge, die wir ohnehin schon wissen. Und die wir vermutlich nicht beherzigen werden.“
Zu Buch und Lesung
Rebecca Gablé: „Drachenbanner“, Lübbe, 924 Seiten, 29,90 Euro. E-Book: 20,99 Euro.
Lesung: Freitag, 16. September 2022, 20:15 Uhr, Thalia Mayersche Buchhandlung, Neumarkt 2, 50667 Köln. Moderation: Margarete von Schwarzkopf