Vor 100 Jahren wurde André Franquin geboren, das wilde Genie des frankobelgischen Comics – Der Carlsen Verlag ehrt ihn mit Sonderausgaben.
Er schuf das Marsupilami und GastonZum 100. Geburtstag des Comic-Genies André Franquin
Es sei unmöglich, stellte der „Tim und Struppi“-Schöpfer Hergé fest, ihn mit seinem jüngeren Konkurrenten André Franquin zu vergleichen: „Franquin ist ein großer Künstler. Neben ihm bin ich nur ein mittelmäßiger Kritzler.“ Das kann man natürlich nicht so stehen lassen. Doch muss man sich nur die waghalsige Rennrad-Abfahrt Fantasios vom Mont Pilou anschauen (aus „Der doppelte Fantasio“ von 1954), eine Sequenz von haarsträubender Dynamik, um ins Lob des 17 Jahre älteren Kollegen einzufallen.
Tatsächlich haben die zwei Giganten des frankobelgischen Comics einiges gemeinsam, beide wurden sie im Brüsseler Stadtteil Etterbeek geboren, besuchten als Kinder das Saint-Boniface-Institute. Dessen Mauern zierten bereits Fresken des 15-jährigen Hergé – Ritter, Indianer, Pfadfinder – als sich André Franquin die Unterrichtszeit mit heimlich angefertigten Zeichnungen ein wenig erträglicher gestaltete.
André Franquins unruhiger Strich ist der Gegenpol zu Hergés klarer Linie
Aber sie repräsentieren auch entgegengesetzte Pole der neunten Kunst: Hergés „ligne claire“ suggerierte mit ihren schmalen, unschraffierten Umrisslinien und ihren klar durchkomponierten Einzelbildern eine wohlgeordnete Welt, während Franquins unruhiger Strich das schöne Chaos des Lebens selbst einzufangen scheint, das allen sorgsam gefassten Plänen ein Bein stellt. Ein wenig verhalten sich die Zeichner zueinander wie Platon und Aristoteles: dort eine Welt ewig gültiger Ideen, hier die Tücke des Objekts. Erst wer über ein Stuhlbein stolpert, oder gegen eine Schrankwand läuft, weiß, dass das Hier und Jetzt keine Simulation ist, dass im Scheitern mehr Variationen liegen, als das Idealbild in sich vereinen kann.
Am 3. Januar 2024 wäre André Franquin 100 Jahre alt geworden, tatsächlich ist er bereits 1997, zwei Tage nach seinem 73. Geburtstag, an Herzversagen gestorben. Sein Werk jedoch ist jung geblieben, von seinen kindischsten Albernheiten bis zur tiefsten Verzweiflung.
Obwohl er bereits als Kind seine Familie mit Kreidezeichnungen auf einer kleinen Tafel unterhielt, kam Franquin per Zufall zur Comic-Karriere. Zwar hatte er sich gegen den Willen des Vaters an einer Kunstschule einschreiben können, doch bald schon langweilte er sich an der streng katholischen École Saint-Luc. Bis der Zeichner Eddy Paape seiner ehemaligen Schule einen Besuch abstattete und von den Werken des jungen Franquin so beeindruckt war, dass er diesen für das kleine Trickfilmstudio rekrutierte, in dem er arbeitete. Vielleicht lernte Franquin hier die Kunst, dem Einzelbild Bewegung zu verleihen.
Das Studio überlebte das Ende des Zweiten Weltkriegs nicht, die amerikanischen Soldaten brachten mit der Freiheit auch ihre überlegenen Animationsfilme mit, aber Franquin traf hier auf Morris und Peyo, die späteren Schöpfer von „Lucky Luke“ respektive „Die Schlümpfe“. Zusammen wechselten die drei zum wöchentlich beim Verlag Dupuis erscheinenden Comic-Magazin „Spirou“. Zusammen mit dessen Hauszeichner Jijé bildeten sie die „Schule von Marcinelle“, das dynamische Gegenstück zur klaren Linie von Hergés Konkurrenz-Magazin „Tintin“.
Franquins populärste Schöpfung: das Marsupilami
Jijé, der fast alle Serien von „Spirou“ verantwortete, lud den Comic-Neuling Franquin ein, die Titelserie des Magazins „Spirou und Fantasio“ zu übernehmen. Der imitierte zuerst den Stil seines Mentors, führte die Abenteuer des kleinen Hotelpagen mit Anbruch der 1950er Jahre in immer fantastischere und fantastisch lustigere Gefilde. Erfand den mit Wunderpilzen experimentierenden Grafen von Rummelsdorf, die Bösewichte Zantafio und Zyklotrop und die rasende Reporterin Steffani, die viel pfiffiger ist, als die beiden Helden. Außerdem entdeckte er im Dschungel von Palumbien ein gelb-schwarzes, Piranhas verspeisendes, birnenförmige Eier legendes Tier, das seinen acht Meter langen Schwanz zur Sprungfeder aufrollen oder zum Knüppel verknäulen kann: das Marsupilami, Verkörperung einer ungebremsten, aber wehrhaften Fantasie.
Als Meisterwerk der „Spirou und Fantasio“-Serie, auch in gestalterischer Hinsicht, gilt der Band „QRN ruft Bretzelburg“ aus dem Jahr 1966, eine politische Satire auf diktatorische Systeme, die DDR könnte genauso gemeint sein wie Hitler-Deutschland. Streckenweise wirkt die Geschichte beinahe wie ein Update zu Hergés 1938 begonnenen Tim-und-Struppi-Abenteuer „König Ottokars Zepter“. Franquins sehr spezieller Humor, tiefschwarz, dabei jedoch seltsam poetisch, zeigt sich vor allem in den Folterszenen: Gefangene des Systems werden mit zu kleinen Schuhen gequält, mit quietschender Kreide oder mit den Düften köstlicher Mahlzeiten, die ihnen verwehrt bleiben. Jahrzehnte später schickt der deutsche Zeichner Flix Spirou und Fantasio in die real existierende DDR. Mit Methoden, wie sie sich Franquin ausgedacht hat, erzählt Flix, sei im Stasi-Gefängnis Hohenschönhausen tatsächlich gefoltert worden.
An der Arbeit zu „QRN ruft Bretzelburg“ zerbrach Franquin beinahe, er verfiel in eine tiefe Depression, hatte das Gefühl, sich mit der Serie im Kreis zu drehen. Viel näher war ihm da der liebenswerte Chaot, der zum ersten Mal 1957 zwischen den Comic-Strips von „Spirou“ seine blauen Fußspuren hinterlassen hatte, aber kurz darauf den Titel des Magazins zierte: Gaston Lagaffe, der unfassbar unfähige Bürobote im Dupuis Verlag (beziehungsweise in den deutschen Ausgaben im Carlsen-Verlag), ein Nachfahre von Charlie Chaplins Tramp, ein Vorläufer nicht-einverstandenen Jugendbewegungen der 1960er Jahre.
Wobei seine übermäßige Faulheit Gaston regelmäßig zu Höchstleistungen treibt, zu tolldreisten Erfindungen und noch dreisteren Ausreden. Angeblich fürchtete Franquin nichts so sehr, wie den Leser nicht zum Lachen zu bringen, weshalb er die Gaston-Strips mit Hunderten von Hintergrund-Gags füllt.
Fällt Gastons Protest gegen den unakzeptablen Ist-Zustand der Gesellschaft noch vergleichsweise liebenswert aus, erreicht Franquin mit seinen im Band „Schwarze Gedanken“ zusammengefassten Schwarz-Weiß-Strips den Ground Zero seiner Kunst: Die rettenden Lichter eines Dorfes, die ein Erfrierender erblickt, entpuppen sich als die hungrig-funkelnden Augen eines Rudels Wölfe; ein Mann, der Vögel füttert, wird bis auf die Knochen abgenagt.
Doch eigentlich gilt die heimliche Sympathie des Zeichners den Tieren. Viel tödlicher sind die Militärs, Börsenhändler und Fabrikanten, die er hintuscht, als wären sie schwarze Flecken auf dem weißen Papier.
Im Carlsen-Verlag sind zum Jubiläum einige Sonderausgaben mit Werken von André Franquin erschienen, unter anderem eine Edition der ersten fünf Gaston-Ausgaben im italienischen Querformat, und Neuausgaben von „Schwarze Gedanken“ und des Marsupilami-Bandes „Ein Nest im Urwald“.