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Eröffnung der RuhrtriennaleSandra Hüller lässt ihren inneren Rockstar raus

Lesezeit 4 Minuten
Sandra Hüller singt Songs der legendären Sängerin und Songwriterin PJ Harvey. Eine Produktion der Ruhrtriennale in Partnerschaft mit der Künstlerischen Leitung  von Ballet National de Marseille (LA)HORDE.
I Want Absolute Beauty, Regie: Ivo Van Hove. Sandra Hüller

Sandra Hüller singt Songs der legendären Sängerin und Songwriterin PJ Harvey.

Ivo Van Hove, neuer Intendant der Ruhrtriennale, eröffnet das Festival mit einem Abend, der sich aus Songs der britischen Indie-Rock-Legende PJ Harvey zusammensetzt.

„Ich habe einen Samen gesät, unter der Eiche“, singt Sandra Hüller (auf Englisch). Der Boden der Bochumer Jahrhunderthalle ist von Erde bedeckt, ein weites, unbestelltes Feld, von Lichtstelen flankiert, mit einer Spiegelwand ins Unendliche abschließend (Bühne: Jan Versweyveld). Vor Hüller hat sich eine Tänzerin auf die Erde geworfen, man liest sie instinktiv als ihre Tochter. „Wachse, wachse“, fordert die Schauspielerin. Dann antwortet sie sich selbst: „Teach me how to grow“, bringe mir bei, wie man wächst. Ihre Stimme schwankt zwischen stabil und labil, sie sucht noch nach festem Boden, nach einer tieferen Tonlage.

Den Song „Grow Grow Grow“ findet man auf „White Chalk“, dem dunkelsten Album in PJ Harveys eindrucksvoller Diskografie, durch seine Zeilen spukt der Geist eines ungeborenen Kindes. Aber heute, in Ivo Van Hoves am Freitagabend uraufgeführter Produktion „I Want Absolute Beauty“, klingt er nach Selbstbeschwörung. Hüller ist eine Frau auf dem Weg zu sich selbst, sie ist eine Gemeinschaft von Frauen, von gelebten Leben, entsprechend den vielen Häutungen der Singer-Songwriterin Polly Jean Harvey.

Vor acht Jahren hatte Ivo Van Hove ein Musical mit dem todkranken David Bowie produziert

Vor acht Jahren hatte der niederländische Theatermacher zusammen mit dem todkranken David Bowie das Musical „Lazarus“ auf die Bühne gebracht, dessen Werk ganz ähnlich dem seiner Landsfrau vom Menschen als Keimzelle multipler Persönlichkeiten erzählt. Damals hielt ein Handlungsgerüst die einzelnen Songs zusammen, jetzt verzichtet Van Hove auf Netz und doppelten Boden, fährt volles Risiko und eröffnet seine Intendanz der Ruhrtriennale mit einer Mischung aus Musik, Tanztheater und Videokunst (über dem Spielfeld hängt eine Leinwand, beinahe so breit wie die Halle). Das muss man sich erst einmal klarmachen: Da gewinnt man mit Sandra Hüller eine der angesehensten Schauspielerinnen der Welt – und lässt sie knapp anderthalb Stunden ausschließlich singen, was andere sicher besser beherrschen.

Aber es ist ebendieser Mut, sich in potenziell unbeherrschbare Situationen zu begeben, der sie als Schauspielerin so groß macht. Sie schreit und flüstert, sie dröhnt, fistelt und bezaubert. Nur darauf, die unnachahmliche PJ Harvey zu imitieren, verzichtet Hüller. Sie reißt die Wunden, aus denen sich die so kunst- wie kraftvollen Lieder speisen, wieder auf, aber das tut sie auf ihre ureigenste Weise. Dies alles kann schon rein handwerklich auf dem staubigen Erdengrund nicht leicht sein, aber jedes Mal, wenn man denkt, jetzt müsste Hüller der Atem versagen, erhebt sich ihre Stimme umso machtvoller über den muskulösen Sound der vierköpfigen Band. Sie ist eine Kriegerin, die vom verwüsteten Land berichtet.

I Want Absolute Beauty, Ivo Van Hove, PJ Harvey Ruhrtriennale

Der Regisseur und sein Rockstar: Ivo Van Hove und PJ Harvey

Auch wenn sie das Hauptgewicht des Abends schultert, ist Hüller auf der Bühne selten allein. Neun Tänzer der Kompanie (La) Horde (Choreografie: Marine Brutti, Jonathan Debrouwer, Arthur Harel) verstärken, ergänzen und spiegeln die Solosängerin, umschmeicheln und belästigen sie, werfen sie in die Höhe, agieren die Gefühle aus, die sie evoziert. Manchmal illustrieren sie auch bloß die Inhalte von PJ Harveys Songs mit Bildern, die vielleicht allzu abgegriffen und allzu leicht lesbar sind – ein Stierkampf, eine Orgie, soldatisches Exerzieren.

Aber es ist eben kein Ballettabend, am ehesten lässt sich dieses Musiktheater mit den streng durchinszenierten Shows großer Stars wie Beyoncé oder Madonna (für die (La) Horde schon choreografiert haben) vergleichen, vor allem, wenn diese einen hohen narrativen Anspruch verfolgen, wie etwa die „SOS“-Tour der US-Sängerin SZA, oder Kate Bushs erstaunliche Konzertreihe im Londoner Hammersmith Apollo vor zehn Jahren.

Dort schrammt manche Symbolik nah am Offensichtlichen, weil man eben auch noch die hinteren Ränge erreichen muss. Hier, in der auch nicht eben kleinen Jahrhunderthalle, übernimmt ein getopfter Baum, der mehrmals durch ein größeres Exemplar ersetzt wird, das Wachstumsmotiv. Und die emotionalen Feinheiten in Hüllers Mimik bringt einem die riesige Leinwand näher, auf der sich die Live-Bilder eindrucksvoll mit vorproduziertem Bildmaterial mischen, alle vier Elemente und diverse Sehnsuchtsorte zeigend, New Yorks im Sonnenuntergang glühende Straßen oder die Kreidefelsen von Harveys heimischen Dorset (Video-Design: Christopher Ash). Filmischer Höhepunkt ist ein Gastauftritt von Isabelle Huppert, er wirkt beinahe wie eine Staffelübergabe von Ikone zu Ikone.

Der sowieso nur behauptete Unterschied zwischen kommerzieller und Hoch-Kultur, zwischen der Arena und dem Theater, löst sich hier, im Industriebau, vollends auf, bestenfalls besteht er noch in Sandra Hüllers mutigem Laientum: Wenn sie sich als Popdiva oder Rockqueen präsentiert – über weite Teilen ist sie obenrum nur mit einem BH bekleidet, wie Annie Lennox auf der „Revenge“-Tour der Eurythmics –, ist das nur eine weitere Facette einer sich von Song zu Song ständig verändernden, stetig wachsenden Persönlichkeit. „Ich habe mich losgerissen“, singt Hüller im vorletzten Lied des Abends, und im letzten, „We Float“, segelt ihre Stimme triumphierend durch die Jahrhunderthalle: „Aber jetzt treiben wir/ Nehmen das Leben, wie es kommt.“

Es ist, wie im Titel versprochen, ein Moment absoluter Schönheit.


„I Want Absolute Beauty“ ist noch bis zum 30. 8. in der Jahrhunderthalle Bochum zu sehen. Die Vorstellungen sind ausverkauft, man kann sich auf einer Warteliste eintragen. Das ganze Programm der Ruhrtriennale finden Sie hier.