Nichts täte unseren isolierten Seelen derzeit besser, als ein langer, beschwipster ESC-Abend.
Doch das Virus hat auch den Song-Contest genommen: Es bleibt eine mittelmäßiges Programm mit Barbara Schöneberger in der leeren Elbphilharmonie.
Auch andere Ersatzshows ringen um das Eurovision-Gefühl, aber das will einfach nicht aufkommen. Die Kritik.
Köln – Nichts täte unseren isolierten Seelen derzeit besser, als ein langer, beschwipster ESC-Abend. So ein Abend, an dem man mit Freunden stundenlang nach Herzenslust ablästern kann. An dem sich Europa — und Israel und Australien als Trash-Verbündete — wieder ganz nah ist, und sei es nur in der gemeinsamen Unfähigkeit, ein Lied zu produzieren, das wenigstens annähernd den jeweils aktuellen Stand der Popmusik simuliert.
Aber Corona hat uns selbstredend auch den Eurovision Song Contest genommen, weshalb am Samstagabend allein die Wahl des Methadonprogramms blieb: In der ARD kürte Barbara Schöneberger in der leeren Elbphilharmonie einen „Sieger der Herzen“, gefolgt von der „Shine a Light“-ESC-Ersatzshow aus dem niederländischen Hilversum; auf ProSieben versuchte Stefan Raab derweil einen „Free European Song Contest“ zu etablieren.
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In Hamburg sind immerhin zehn der europäischen Originalbeiträge am Start, vier davon singen sogar live auf der Hamburger Bühne. Also ARD, ist doch klar.
Stefan Raab, Conchita Wurst und eine markante Konzerthalle
Beim austragenden NDR scheint man sich seiner Sache indes weniger sicher zu sein: „The Winner takes it all/ der Raab is standing small/ Wir sind das Original/ der ESC, genial“, reimt sich Barbara Schöneberger zusammen, in Herzmuster-Mundmaske zum eng taillierten Kleid aus demselben Stoff vom Dach der markanten Konzerthalle schmetternd. Obwohl das ABBA-Stück ja eigentlich nicht in ihr Medley aus ESC-Gewinnertiteln passt. In der Raab-Show covert Conchita Wurst zeitgleich „Waterloo“, ohne Seitenhiebe in Richtung der Öffentlich-Rechtlichen.
Im großen Saal der Elphi warten ESC-Dauerkommentator Peter Urban und Michael Schulte auf die Schöneberger. Letzter hat vor zwei Jahren für Deutschland gesungen und einen ordentlichen vierten Platz belegt, was er nun noch ein letztes Mal ausgiebig feiern darf. Die Herren sitzen Platz an Platz, sind aber durch eine Plexiglasscheibe korrekt getrennt.Die folgenden Wettbewerbsbeiträge liefern die übliche Mischung aus generischem Pop, weinerlichen Balladen, kopfkratzenden Seltsamkeiten und folkloristisch aufgepeppten R‘n‘B-Versuchen aus ehemaligen Staaten der Sowjetunion.
Auch die letzten Spurenelemente von Stimmung gekillt
Die Mad-Max-Katy-Perry aus Aserbaidschan, die Erfindung des Hinterkopf-Winkens aus Litauen, die Mädcheninternatsbluse des jungen Schweizer Chansonniers: Lästerstoff ist durchaus vorhanden.Aber eigentlich funktionieren nur die Beiträge, die wirklich vor Ort sind. Trotz leerer Ränge, trotz reduzierter Choreografie, trotz nicht vorhandener Spezialeffekte. Der isländische Beitrag, die unaussprechlichen Daði og Gagnamagnið, haben ihren Song „Think About Things“ auch musikalisch zu einer knochentrockenen Elektropopnummer abgespeckt und klingen jetzt wie die Parcels oder wie The Whitest Boy Alive vor zehn Jahren, aber immerhin wie Musik, zu der man auch in der freien Wildbahn tanzen würde. Wenn man das noch dürfte.
Leider gibt sich die ARD alle Mühe, auch noch die letzten Spurenelemente von Stimmung zu killen, es ist schon fast eine Kunst. Freilich, es ehrt Frau Schöneberger, dass sie die unmögliche Aufgabe übernommen hat, einen leeren Saal zu bespaßen. Aber entschuldigt das Büttenwitze aus den 50er Jahren, wie jenen, dass die Orgel der Elbphilharmonie mehr Pfeifen habe als der Bundestag?Als es daran geht, die Punkte zu vergeben — die je zur Hälfte von einer „Fachjury“ und vom Publikum kommen, dass von Frau Schöneberger so beharrlich wie in einem Telefonsex-Infomercial zum Anrufen gedrängelt wird — schaltet man erst zu einer Kurzausgabe der Tagesschau, dann zum Wort am Sonntag, in dem sich eine feixende Pastorin über die tollen Streamingzahlen von Gottesdiensten freut.
Die Krise hat also doch ihr Gutes. Schließlich singt Michael Schulte ein Reggaestück, das auch niemand hören wollte. Und dazwischen wird so oft der Schnelldurchlauf gezeigt, dass man sich ernsthaft fragt, ob es sich hier nicht etwa um Konzeptkunst handelt, die passive Zuschauer aus ihrer Lethargie rütteln will? Selbst die Schöneberger frotzelt, dass sie sich bereits in „Schnelldurchlauftrance“ befinde.
Endlich gewinnt der kuriose litauische Beitrag, The Roop mit „On Fire“. Warum auch immer. Es ist ja eh egal. Die Party ist tot. Nur als in der holländischen Folgeshow die portugiesische Kandidatin zu Protokoll gibt, dass ihre Einflüsse „die Musik der 60er, 70er und 80er“ sei, muss man noch mal kurz glucksen. Ansonsten gilt: The Virus takes it all.