Eckart von Hirschhausen erklärt, wieso wir zur Europawahl am 9. Juni unsere Stimme abgeben müssen. Ein Gastbeitrag.
Eckart von Hirschhausen zur Europawahl„Wen würde Adolf Hitler wählen? Müsste er lange überlegen?“
Wenn in den Wahlsondersendungen am Sonntagabend das klassische Tortendiagramm mit den Verteilungen auf die verschiedenen Kuchenstücke erscheint, vergisst man manchmal, woraus die Torte besteht. Die Torte, das sind wir! Das Tortenrund zeigt immer 100 Prozent der gültigen Stimmen.
Und auf dem Bildschirm ist es immer gleich groß. Aber wie viele Wähler diese 100 Prozent ausmachen – das ist immer unterschiedlich. Das bestimmt die Wahlbeteiligung. Die Torte zur Wahl ist bis zum Wahltag noch nicht gebacken, der Teig kann noch aufgehen, wenn viele zur Wahl gehen. Gehen Sie mit?
Und um im Bild zu bleiben: Mal angenommen, Sie mögen keine Rosinen. Nun gibt es aber im Teig ein paar davon, die sind bereits faulig-braun und können einem gehörig den Appetit verderben. Wenn wir die Torte drumherum nur groß genug machen, fallen die fiesen Rosinen weniger auf. Und es gibt viele Stücke ganz ohne. Das würde den Genuss am Wahlabend deutlich steigern.
2024 wird ein entscheindes Jahr für die Demokratie in Deutschland
2024 ist ein entscheidendes Jahr: für unsere Demokratie in Deutschland, in Europa und für alle, die gerne in Frieden als gesunde Menschen auf einer gesunden Erde zusammenleben wollen.
Die Europawahl am 9. Juni ist nach der Parlamentswahl in Indien die größte demokratische Wahl der Welt. Europa ist eine Erfolgsgeschichte, die weitergeschrieben werden muss. Wir könnten der erste Kontinent sein, der klimaneutral wird. Wir werden die Lebensgrundlagen von uns und allen, die noch kommen mögen, nur schützen, wenn wir alle Energie auf die großen Hebel legen: den Green Deal, die Energiewende, die verbindliche Luftreinhaltung und die Renaturierung, die in ganz Europa Moore, alte Wälder und die Artenvielfalt schützt.
„Jeder nur ein Kreuz!“ Das demokratische Prinzip der gleichen Wahl lässt einen schon mal schnell an Monty Pythons „Das Leben des Brian“ denken und bei einigen der Parteien, die aktuell zur Europawahl antreten, auch an den grotesken Dauerstreit zwischen der „Volksfront von Judäa“ und der „Judäischen Volksfront“.
Ganz oben auf meiner persönlichen Hitliste steht aktuell ja die „Partei für die schulmedizinische Verjüngungsforschung“, die ein 1000 Jahre währendes Leben verspricht. Was mein Vertrauen etwas trübt, ist die Tatsache, dass der Spitzenkandidat der Partei erst 1978 geboren wurde. Jahrgang 978 – da hätte mich das Programm sofort überzeugt.
Eine Aufforderung dazu, zur Europawahl zu gehen
Natürlich will ich Ihnen damit nicht sagen, wen Sie wählen sollten und wen nicht. Ich will nur sagen: Wählen Sie! Dass einem keine Partei zu 100 Prozent zusagt, ist völlig normal. Ich bin ja mit mir selbst oft auch schon nicht zu 100 Prozent einer Meinung. Demokratie bedeutet immer, Kompromisse machen. Wenn man nach dem Prinzip des kleinsten Übels wählt, liegt man schon mal weniger daneben.
Wählen ist geheim. Das ist super. Über das Wählen zu reden, sollte nicht geheim sein, sondern selbstverständlich. Aber dafür braucht es tatsächlich Überwindung – und Übung. Ich habe neulich im Taxi geübt. Beim Aussteigen versprach mir der Taxifahrer, dass er wählen geht. Und mir wurde beim Aussteigen klar, dass es zwischen Wahlkabine und Briefwahl noch eine Marktlücke gibt für Abstimmungen aus dem Auto: die „Drive-Through-Demokratie“.
Mit Hilfe der Wahl-o-Maten lassen sich die eigenen Werte und Prioritäten leicht mit den Angeboten der Parteien vergleichen, ohne dafür gleich die Programme wälzen zu müssen. Für mich sind beispielsweise Parteien schlichtweg unwählbar, die Wissenschaft und den menschengemachten Klimawandel leugnen. Jeder hat das Recht auf eine eigene Meinung, aber nicht auf eigene Fakten. Auch sind für mich Politiker nicht wählbar, die Kinder mit Behinderung in den Schulen als „Belastung“ für „die Leistungsfähigkeit unserer Kinder“ ansehen – als ob Kinder mit Behinderung nicht auch unsere Kinder wären. Und für mich ist niemand wählbar, der erkennbar die europäischen Institutionen zerstören will, die wir mühsam aufgebaut haben. Dass ein Austritt aus der EU nichts besser macht, davon kann jeder in England ein Lied anstimmen. Aber eben nicht mehr mit abstimmen.
Auch Eckart von Hirschhausen hat einen Migrationshintergrund
Oder noch direkter die härteste Testfrage von allen: Wen würde Adolf Hitler wählen? Müsste er lange überlegen? Müssen Sie lange überlegen? Es ist zum Glück nur ein Gedankenspiel. Aber ein wirksames. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht. Oder ihren Nachbarn. Aber ich würde diese Partei schon mal direkt ausschließen. Ich möchte ja auch in fünf Jahren noch eine konstruktive Europawahl erleben. Dass Institutionen von innen heraus kaputt gemacht werden können, ist eine echte Schwachstelle der Demokratie. Und historisch bestens belegt.
Ein weiteres Gedankenspiel: mal angenommen, die abstruse Idee der „Remigration“ würde Wirklichkeit. Wer arbeitet dann eigentlich noch in all den Jobs, die dieses Land zusammenhalten? Allein im Gesundheitssystem würde kein Tag irgendjemand gepflegt, untersucht oder behandelt ohne Menschen mit Migrationshintergrund, die gerne hier arbeiten und hoffentlich auch bleiben.
Meine Eltern sind beide in Estland geboren und durch den Zweiten Weltkrieg mit Umsiedlung und Flucht nach Deutschland gekommen. Ich habe also eine „internationale Biografie“, einen unsichtbaren Migrationshintergrund, wie sehr viele, wenn man genauer schaut. Und ich freue mich, dass ich so viel Frieden, Bildungschancen und Sicherheit in meinem Leben hatte und dadurch so viel Zeit für schöne Dinge. Durch die Geschichten meiner Großeltern weiß ich: Das ist alles andere als selbstverständlich.
Es braucht eine mutige Zivilgesellschaft
1945 war allen in Europa sehr klar: Nie wieder Krieg. Und nie wieder Faschismus. Das, finde ich, ist auch 2024 eine sehr gute Grundlage für unser Zusammenleben. Unsere Demokratie in Deutschland – und in Europa – ist von zwei Seiten akut gefährdet: durch jene, die sie aktiv beschädigen wollen, und durch alle, die sie für selbstverständlich halten. Europa scheint oft weit weg zu sein. Dabei ist Europa nah. Lebensnah. Wie gut die Luft ist, die wir atmen; wie intakt die Natur um uns bleiben kann; und wie wir gemeinsam enkelfähig essen, wirtschaften und leben – all das wird vor allem in der EU entschieden.
Europa ist nicht perfekt, und vieles kann einen in den Wahnsinn treiben. Aber es ist so immer noch so viel besser als Kleingeist und Kleinstaaterei. Vor uns liegen raue, schwierige Gewässer und komplexe Herausforderungen. Wir sind mittendrin in einer historisch rasanten Veränderung, die wir jetzt noch mitgestalten können, sonst überrollt sie uns. So unromantisch das klingt: Es wird nicht mehr wie früher. Auch wenn die von Vorgestern das versprechen.
Was jetzt gebraucht wird: eine mutige Zivilgesellschaft. So wie wir sie in den vergangenen Wochen und Monaten überall in Deutschland erleben konnten. Die schweigende Mehrheit hört endlich auf zu schweigen. Und erinnert sich gegenseitig daran, dass sie die Mehrheit ist. Quer durch alle Generationen und Parteien spüre ich gerade eine Aufbruchstimmung: Andere ansprechen, zuhören, über echte Sorgen reden, Gemeinsamkeiten und Lösungen finden. Und: Wählen gehen, jeder und jede, alle zusammen.
Wären die Nichtwähler eine Partei, wäre sie die größte
Die größte „Partei“ sind die Nichtwähler. Nichtwähler sind häufig jung, unzufrieden und haben ein geringeres Einkommen. Lauter Kriterien, die auf Sie sehr wahrscheinlich nicht zutreffen – bis auf unzufrieden. Sie kennen aber sicher viele in Ihrem Umfeld, die vor der Wahl am Sonntag noch unentschieden sind oder schlicht uninformiert. Es lohnt, sich schlau zu machen, den Mund aufzumachen. Am besten in dieser Reihenfolge. Auch unter sogenannten Bessergestellten gibt einen hohen Grad an Uninformiertheit, von den Sylter Eskapaden ganz zu schweigen.
Die Nichtwähler direkt anzusprechen, ist aufwändig, sie „über Bande“ anzusprechen, gelingt. Bande bedeutet: existierende Bindung – über Familie und Freunde, über Kollegen und Arbeitgeber oder über gemeinsames Interesse. Im direkten, vertrauten Gespräch merkt man schneller, wenn der „Denkzettel“ als Grundlage für die Wahlentscheidung nicht zu Ende gedacht wurde. Und man merkt, dass man mit seinen Zweifeln, seinem Unmut, seiner Hilflosigkeit angesichts der vielen Krisen ohne einfache Antworten nicht allein ist. Einem Plakat oder einem Werbespot kann man ausweichen. Einer Frage am Küchentisch oder in der Kantine nicht.
Die Generation, die noch Krieg und Nachkriegszeit erlebt hat, muss weitergeben, was historisch auf dem Spiel steht. Die Enkel müssen sagen, was für die Zukunft entscheidend ist. An die 16-Jährigen also meine Bitte: „Bringt als Erstwähler die Oma mit zur Urne!“ Und an die über 60: „Bringt die Enkel mit!“ Alle dazwischen sowieso. Keine Stimme verschenken! Jede ist kostbar! Deshalb: Nicht wählen gehen - geht gar nicht!
Lasst uns die Torte richtig groß machen! Und bunt. Und genießbar.