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FotobandWie die Natur mit Orten ringt, die wir verschandelt haben

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Gewächshäuser im Süden Spaniens: Reveque I, 2012, aus El jardin de los ciclopes

1975 fand im George Eastman House im amerikanischen Rochester eine Ausstellung statt, die bis heute zu den einflussreichsten überhaupt zählt: „New Topographics“ präsentierte eine vollkommen neuartige Form der Landschaftsfotografie, die mit den emotionalen Aufnahmen eines Ansel Adams höchstens die feine Gestaltung und die technisch Qualität gemein hatte.

Denn inhaltlich ging es den zehn versammelten Fotografen, unter denen auch Stephen Shore, Lewis Baltz und Bernd und Hilla Becher waren, nicht um die Schönheit der unberührten Natur, sondern um die vom Menschen veränderte Landschaft – mit landwirtschaftlich genutzten Bereichen, Brachland und Randgebieten, Wegen, Straßen, Plätzen, Wohn- und Gewerbesiedlungen, historisch gewachsenen oder im Bau befindlichen Industrie- und Stadtarchitekturen. „Unorte“ könnte man vereinfacht sagen oder auch „Warum fotografiert man das denn?“

Diese Frage trifft auf den ersten Blick vielleicht auch auf Georg Aerni zu. Der Schweizer hat ursprünglich Architektur studiert bevor er sich als Fotograf selbstständig machte. Das hat nicht unbedingt Einfluss darauf, wie er etwas fotografiert, dafür aber sicherlich umso mehr, was ihn interessiert. Seine 2012 erschienene erste umfassende Monografie „Sites & Signs“ war eine kleine Offenbarung und wurde mit dem Deutschen Fotobuchpreis in Silber ausgezeichnet.

Schulen wie Tiergehege

Es zeigte von Menschen gestaltete Orte, die jedoch auch zutiefst menschenfeindlich sind, und präsentierte darin quasi als Prolog auch Tiergehege aus europäischen Zoos. Die sehen merkwürdigerweise den Lebensräumen von Menschen gar nicht so unähnlich, wenn man sich beispielsweise an die deutschen Schulbauten aus den 1970er Jahren mit ihren nüchternen, kalten und verschachtelt angeordneten Sichtbetonwänden erinnert.

Zehn Jahre später hat Aerni nun den Nachfolger geliefert. „Silent Transition“ zeigt uns wieder typische Aufnahmen im Stil der New Topographic Bewegung und reiht sich auch fast nahtlos an sein Vorgängerbuch an.

Mit vielleicht einem wesentlichen Unterschied. Es geht nicht mehr überwiegend um die Veränderungen, mit denen sich der Mensch in die Landschaft einschreibt, sondern darum, wie sich die Natur diese Veränderungen wieder zurück holt oder wo sie mit dem Menschen ringt.

Stacheldraht verschwindet in der Baumrinde

Wir sehen Stacheldraht, der fast vollständig in der Rinde eines Baumes verschwunden ist, Äste, die sich durch filigrane Mauern schlingen, Flechten an der Betonwand einer Brücke und komplett überwucherte Brückenpfeiler. Aber auch neu gepflanzte Bäume, die von Bambusstangen gestützt werden, und Bauruinen, die eine düstere Skyline bilden, die trotz ihrer Nutz- und Sinnlosigkeit dennoch die Landschaft verschandeln und den Blick auf den Horizont verstellen.

Dass Aerni die Bilder nach den entsprechenden Flurnamen bezeichnet, macht die Verortung einerseits zwar präziser, uns Betrachtern aber auch zugleich schwerer bis unmöglich, weil kaum jemand mit diesen Angaben etwas anzufangen weiß. So stehen die Orte letztlich für alle Orte und auch, wenn einem von den eigenen Urlaubsreisen vielleicht die ein oder andere Stelle bekannt vorkommt, bleiben sie doch universell.

So wie die bis zum Horizont (oder zumindest bis zum Meer) reichenden Gewächshäuser im Süden Spaniens, in deren künstlicher Umgebung Natur wächst und deren weiße Plastikfolien zerfetzt in alle Richtungen verweht werden.

Es sind schöne Fotos von unschönen Orten, die uns Aerni von seinen Reisen mitbringt. Sie sind notwendig, um das Ausmaß des menschlichen Handelns ein Stück besser begreifen zu können. Daran hat sich seit der Ausstellung 1975 im George Eastman House nichts geändert.

Georg Aerni: „Silent Transition“, Scheidegger & Spiess, 192 Seiten, 48 Euro