François-Xavier Roths Bruckner-Zyklus steuert mit neuen Aufnahmen auf sein Ende im Jubiläumsjahr 2024 zu. Es ist Bruckners 200. Geburtsjahr.
Zu Bruckners 200 jährigen GeburtstagFrançois-Xavier Roths Bruckner-Zyklus geht auf die Zielgerade
Die Sache ist von langer Hand geplant: 2015, gleich nach seinem Amtsantritt als Kölner Generalmusikdirektor, starteten François-Xavier Roth und das Gürzenich-Orchester mit der vierten Sinfonie einen großangelegten Bruckner-Zyklus. Jetzt, im Jubiläumsjahr, das den 200. Geburtstag des Österreichers feiert, geht er auf die Zielgerade. Das letzte Bruckner-Abokonzert mit der Achten fand bereits kurz vor Weihnachten statt, die CD-Produktion hinkt naturgemäß hinterher.
Soeben erschien beim Kölner Label myrios als dritte Aufnahme nach der Vierten und der Siebten just die Dritte. Die Aufnahmen entstanden allesamt im Umfeld der Live-Konzerte – was man der Spielqualität nicht anhört: Vom Studio mögen sie sich durch die Vitalität und Agilität, durch das Hier und Jetzt der Tonentstehung unterscheiden, nicht aber durch die – durchweg ausgezeichnete – Qualität der Performance.
François-Xavier Roth mit Aufnahmen von Bruckner-Sinfonien
Dass ausgerechnet der Franzose Roth eine bereits jetzt allüberall gelobte Gesamtaufnahme des sinfonischen Bruckner ins Werk setzt, mag man pikant finden. Es gibt in Frankreich keine große und lange Aufführungstradition für diesen Komponisten, und mit dem von ihm gegründeten Pariser Originalklang-Ensemble Les Siècles führt der Maestro ihn auch nicht auf. Dafür kam nach seiner eigenen Einschätzung nur das Gürzenich-Orchester mit seiner langen einschlägigen Vertrautheit und den entsprechenden Voraussetzungen im Grundsound infrage.
Bemerkenswert ist freilich, wie Roth diesen Sound dann doch nach Maßgabe der historischen Aufführungspraxis und seiner französisch geprägten Klangvorstellungen hin modifiziert und modelliert. Bruckner à la française? Vorsicht, allemal muss man aufpassen, dass man da keinen Klischees aufsitzt. Und immerhin hat Roth schon mit seinen Strauss-Aufnahmen mit dem SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg bewiesen, wie gut und tief er mit der deutsch-romantischen Musiktradition und ihren spezifischen Klangvoraussetzungen vertraut ist.
Der neue Bruckner des Gürzenich-Orchesters klingt frischer
Aber es stimmt schon: Dieser neue Bruckner klingt frischer, schlanker, heller, luftiger, übrigens auch dramatischer, als man es von vielen konventionellen Interpretationen gewohnt ist. Das reduzierte Vibrato der Geigen mag das Seine dazu beitragen, aber das ist es nicht alleine. Viel kommt von der genauen Mischung der Farben und Register her. Das Trompetensolo mit dem Hauptthema des ersten Satzes der Dritten etwa knallt nicht heraus, sondern wird sanft in der freilich sehr genau konturierten d-Moll-Matrix der Umgebung platziert. Generalpausen, aber auch die großen Crescendo-Verläufe werden bis zum Zerreißen der Hörernerven gespannt.
Wenn es eine Interpretationsmaxime gibt, dann ist es die einer Coincidentia Oppositorum. Bruckner ist bei Roth immer das eine und zugleich das Gegenteil davon – Polka und Choral etwa finden im Finale ungezwungen zusammen. Unter dem weiten Himmel dieses Welttheaters hat vieles Platz – auch übrigens die Zitate aus „Tristan“ und „Tannhäuser“ –, ohne doch die Einheit des Ganzen zu gefährden.
Auf der CD sind konsequent die Erstfassungen zu hören
Eine Besonderheit des Projekts: Der Dirigent greift konsequent auf die jeweiligen Erstfassungen zurück: Er will ganz offenkundig weg vom Bild des katholischen Traditionalisten, das nicht zuletzt infolge später vorgenommener Kürzungen und Glättungen entstand. Bruckner reagierte damit auf den Verbesserungsrat von Freunden, die dem Werk damit halt auch schon mal einen Bärendienst erwiesen. Bruckner, der Moderne, der mit seinen kühnen Klangcollagen, seinen gewaltsamen Auf- und Abbrüchen den Weg ins 20. Jahrhundert wies – das ist Roths Bruckner, mit dem er in der spätestens seit Günter Wand fest etablierten Bruckner-Tradition der Gürzenicher neue Lesarten, Farben, Akzente platziert.
Ein Beispiel: Im langsamen Satz der Dritten erscheint häufiger eine sakral anmutende Wendung, die die Musikwissenschaft als „marianische Kadenz“ bezeichnet. In den späteren Fassungen des Werkes folgt auf die Formel eine halbtaktige Pause. Nicht so in der ersten Fassung von 1873: Dort ziehen die Streicherbässe ihren letzten Ton anschwellend in die Länge – das wirkt dann nicht mehr fromm und anheimelnd, sondern irritierend und bedrohlich.
Orchesterwerke von Camille Saint-Saëns
Ein ganz anderes Terrain erschließt der Kölner GMD mit Les siècles in einer beim französischen Label harmonia mundi auf zwei CDs erschienenen Aufnahme von Orchesterwerken des französischen Klassizisten Camille Saint-Saëns. Die erste CD enthält Sinfonische Dichtungen, bei denen sich Saint-Saëns am Vorbild Liszts orientierte. Zumal im Danse macabre opus 40 macht das „Dies irae“-Zitat der Bezug zu Liszt, aber selbstredend auch zu Berlioz manifest. Die zweite CD enthält den unverwüstlichen „Karneval der Tiere“ und mit „L’Assassinat du duc de Guise“ die Musik zu einem der bedeutendsten frühen Stummfilme (1908). Der Brahms-Zeitgenosse als Filmkomponist – wer hätte das gedacht?
Roth hat auch diesmal wieder penibel Instrumentarium aus der Zeit der Uraufführung ausfindig gemacht oder nachbauen lassen, darunter (für den „Karneval“) ein Doppelklavier. Die Mühe lohnt sich, die Orchesterstimmen, etwa die der Klarinetten, bekommen eine markante und sich als solche unverlierbar einprägende Farbe. Insgesamt ist der Sound kernig, in seiner Brillanz aufgeraut und in einer Weise präsent, knackig, körperlich, dass der Hörer schier im Inneren der Instrumente zu wohnen meint. Und der Humor der karnevalistischen Tiere fällt diesmal besonders drastisch aus. Köstlich etwa das hanebüchene Falschspiel der „pianistes“ in der Nummer 11. Nicht zuletzt wer Kinder mit Aussicht auf Erfolg an klassische Musik heranführen will, sollte, was diese Musik anbelangt, unbedingt zu der neuen Einspielung greifen.