Frankensteins MonsterDas einsamste Wesen der Welt
Ein Sommer, der keiner war. Im südlichen Europa und im amerikanischen Nordosten bibberten die Menschen um die Wette: Das Jahr 1816 ging als „Achtzehnhundert-underfroren“ in die Geschichte ein, es goss in Strömen, und die Sonne kam nicht zum Vorschein. Der Ausbruch des indonesischen Vulkans Tambora war Ursache für „Die Finsternis“, wie Lord Byron in seiner Villa Diodati am Genfersee ein Gedicht über dieses „Jahr ohne Sonne“ überschrieb. Er und seine Gäste konnten oft nicht vor die Tür, aber glich diese Situation nicht der Literatur, die sie schrieben? Düster, ein bisschen apokalyptisch, todessehnsüchtig und unheimlich – ganz nach dem Geschmack der Romantik.
Doch auch Romantikern kann es langweilig werden, und so erfanden Byron und sein Leibarzt John Polidori sowie das künftige Ehepaar Mary und Percy Bysshe Shelley Schauergeschichten, die sie sich gegenseitig vortrugen. Die berühmteste von ihnen beschäftigt uns bis heute: Mary Shelleys Roman „Frankenstein“, der zwei Jahre nach jenem ausgefallenen Sommer 1818, also vor rund zweihundert Jahren erschien.
Naturwissenschaft vereinigt sich in dieser Epoche mit Wunder- und Aberglaube
Es ist ein Roman über die Hybris des Menschen, der ein Wesen erschafft, welches ihm aus der Kontrolle gerät. Es steckt eine gute Portion Wissenschaftsskepsis in Mary Shelleys Werk: Nicht das Geld, sondern Ruhm stachelt den Forscher Victor Frankenstein an, ein Ebenbild zu erschaffen, das immun gegen Krankheiten ist und durch nichts anderes den Tod finden kann als durch grobe Gewalt.
Es ist nicht nur die Epoche der frühen technischen Erfindungen, der beginnenden Elektrizität und der Experimente des Arztes Galvani, in der Mary Shelley ihre Geschichte über einen modernen Prometheus schreibt. Auch die Alchimie steht bei vielen Zeitgenossen hoch im Kurs, und so vereinigt sich Naturwissenschaft nicht selten mit Wunder- und Aberglaube – auch durch die romantische Literatur zieht sich eine ausgeprägte Vorliebe für Magie, künstliches Leben und allerhand Nachtgestalten. Shelleys Zimmernachbar in der Villa Diodati, der Arzt Polidori, unterhielt seine Hausgenossen mit einer Vampirgeschichte, lange bevor Bram Stoker Dracula erfand.
Der Film prägt das Frankenstein-Bild noch mehr als das Buch
Die finstere Seite der Existenz besitzt in „Frankenstein“ noch eine weitere Facette, nämlich die einer enttäuschten Vater-Sohn-Beziehung, die man auch religiös deuten kann: Der Schöpfergott lässt seine Kreatur allein, nachdem diese sich als Monster entpuppt. Tatsächlich ist Frankensteins Sohn das einsamste Wesen der Welt. Bei Mary Shelley war es Entsetzen auf den ersten Blick: „Die gelbliche Haut verdeckte nur notdürftig das Spiel der Muskeln und das Pulsieren der Adern“, schreibt sie über die Kreatur, deren „wässrige Augen“ den „schmutzig weißen Höhlen“ gleichen, in die sie gebettet sind. Das Gesicht ist runzlig, und den schwarzen Lippen fehlt jede Kontur, da helfen auch die perlenweißen Zähne und das wallende Haupthaar nicht. Kaum hat Frankenstein seine zwei Meter und 40 Zentimeter messende Schöpfung ins Leben gerissen, stürzt er angeekelt aus dem Raum.
Allerdings prägt nicht Mary Shelley unser Bild von Frankensteins Monster, sondern das Gesamtkunstwerk, das James Whale, Boris Karloff und Jack Pierce für den „Frankenstein“-Film aus dem Jahr 1931 schufen. Whale war kurzfristig als Regisseur des Schauerstoffes eingesprungen und hatte den britischen Schauspieler William Henry Pratt, der sich damals schon Karloff nannte, als Ersatz für den lustlosen Dracula-Darsteller Bela Lugosi engagiert; Pierce war als Maskenbildner dafür verantwortlich, Karloff unter einer Monsterlarve zu vergraben. Welchen Anteil jeder von ihnen an der fertigen Maske hatte, ist unter Filmhistorikern nach wie vor umstritten. Aber gemeinsam schrieben sie Shelleys Erfindung ins kollektive Bildergedächtnis ein.
Karloffs Maske war bei Pierce als Shelleys Original
In James Whales „Frankenstein“ trägt das Monster erstmals den berühmten Quadratschädel auf den Schultern, der das Einpflanzen von Gehirnmasse so praktisch macht und die Denkerstirn über den Haaransatz hinaus schiebt. Der Stahlbolzen für die Elektroden steckt ihm noch quer im Hals, die Haut ist leichengrau, die Augenlider hängen müde herab und Narben ziehen sich über das Gesicht. Steif wie ein nach langem Schlaf aus dem Grab gestiegener Untoter stolziert das Monster in schweren Schuhen umher, seine Kleider sind so notdürftig vernäht wie seine Körperteile – jeden Morgen musste sich Karloff vor Drehbeginn bei Pierce einer vierstündigen Verwandlung unterziehen.
Mit Karloffs Maske löste sich Pierce nicht nur von Shelleys Original, in dem sich das äußerst gelenkige Monster buchstäblich verbiegen kann, sondern auch von den noch für Bela Lugosi entstandenen Entwürfen – auf einem Werbeplakat sieht man diesen in King-Kong-Gardemaß und mit schwarzer Haartolle durch eine Straßenschlucht marodieren. Bei Karloff setzte Pierce dagegen auf klassische Effekte: Er färbte dessen Haut grün, weil diese Farbe in Schwarz-weiß aschfahl erscheint, und er verlängerte die Augenlider mit Wachs, um das Monster schläfriger zu machen.
Karloff trug ebenfalls seinen Teil bei, indem er eine Zahnbrücke aus seinem Gebiss entfernte und seine rechte Wange so noch etwas eingefallener erscheinen ließ. Am Ende stand eine Maske, die Mary Shelleys Schöpfung auf ewig als tragische Figur festschrieb. Bis heute stakst Boris Karloff als unbeholfener, von seinem Vater verlassener Riese durch unsere Träume und erscheint dabei so menschlich wie seine Peiniger monströs.