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Freiheitsbewegung in Belarus„Ich hoffe jeden Tag, dass meine Schwester überlebt“

Lesezeit 5 Minuten
Tatsiana Khomich hält ein ausgedrucktes Foto ihrer Schwester hoch.

Tatsiana Khomich, Schwester der Karlspreisträgerin Maria Kalesnikava

Die belarussische Bürgerrechtlerin Maria Kolesnikova ist seit 2020 in politischer Haft. Ihre Schwester Tatsiana Khomich spricht am Freitag mit Gerhart Baum über die Situation in Belarus.

Im Oktober hat Tatsiana Khomich für ihre Schwester Maria Kolesnikova eine Ehrendoktorwürde in Graz entgegengenommen, gerade war sie in Esslingen, wo ihre Schwester im vergangenen Jahr den Theodor-Haecker-Preis bekommen hatte. Mehr als 20 internationale Auszeichnungen hat Maria Kolesnikova erhalten, seitdem sie im September 2020 verschleppt und inhaftiert wurde.

Seit Februar dieses Jahres gibt es keinen Kontakt mehr zu der charismatischen Frau mit den kurzen blondierten Haaren, die die Freiheitsbewegung in Belarus gemeinsam mit Veronika Zepkalo und Präsidentschaftskandidatin Swetlana Tichanowskaja angeführt hatte. „Ich hoffe jeden Tag und jeden Moment, dass meine Schwester überlebt“, sagt Khomich bei einem Video-Gespräch diese Woche. Es sei traurig, dass über Belarus in den internationalen Medien aktuell nur wenig berichtet werde. „Belarus ist ähnlich wie die Ukraine ein Schlüsselland für die Zukunft in Europa“, sagt sie, und erinnert an die Proteste, die nach den internationalen Beobachtern zufolge manipulierten Wahlen im Jahr 2020 mehr als 500.000 Menschen gegen Präsident Alexander Lukaschenko auf die Straße gebracht hatte.

„Die Mehrheit in Belarus ist gegen Diktator Lukaschenko und Putin“

Bevor die Demokratie-Bewegung brutal niedergeschlagen wurde, galt Belarus als Silicon Valley Ost-Europas – ein dynamisches Land, dessen Menschen sich gegen Autokratie und Russlandergebenheit auflehnten. „Die Mehrheit in Belarus ist auch weiterhin gegen Diktator Lukaschenko und gegen Putin“, sagt Tatsiana Khomich. Protest sei allerdings kaum noch möglich. „Schon ein Post in den sozialen Medien gegen den russischen Angriffskrieg oder für die Freilassung meiner Schwester kann bedeuten, dass diese Menschen verhaftet werden“, sagt sie. „Erst in der vergangenen Woche sind Wohnungen von Verwandten von uns durchsucht worden. Das Regime will allen, die es kritisieren, Angst machen, wo es nur geht.“ 600 Regimekritiker würden aktuell jeden Monat verhaftet. „Nächstes Jahr stehen Parlamentswahlen an – da sollen alle kritischen Stimmen vorab zum Schweigen gebracht werden.“

Im Moment ist das Land abgeschnitten von der internationalen Gemeinschaft und gerät in Vergessenheit.
Tatsiana Khomich

Der russische Präsident Putin wolle „Belarus ähnlich wie die Ukraine kolonialisieren – nur ohne Krieg. Im Moment ist das Land abgeschnitten von der internationalen Gemeinschaft und gerät in Vergessenheit – die überall geschürte Angst führt irgendwann zur Ergebenheit der Menschen in ihr Schicksal. Das darf nicht passieren“.

Maria Kolesnikova kämpfte für die Freiheitsbewegung

Als die Situation sich im Jahr 2020 vor den Wahlen zuspitzte und der von Khomich und ihrer Schwester Maria Kolesnikova unterstützte Präsidentschaftskandidat Viktor Babariko verhaftet wurde, blieb Maria Kolesnikova in Minsk, um an der Spitze der Freiheitsbewegung für eine Ablösung von Lukaschenko zu kämpfen. Khomisch verließ Belarus wenige Tage vor der Wahl, als schon viele Oppositionelle im Gefängnis waren. „Wir wussten, dass wir ein Team brauchen, um aus dem Exil die Strukturen der belarussischen Opposition aufrechtzuerhalten“, sagt die 37-jährige Mathematikerin, die in ihrer Heimat als Business-Analystin gearbeitet hat.

Seit mehr drei Jahren ist Tatsiana Khomich nun Handlungsreisende in Sachen Menschenrechtsverletzungen in Belarus – und die Stimme ihrer Schwester, die wegen „Extremismus“, „versuchter Machtergreifung“ und „Aufrufens zu staatsgefährdenden Handlungen“ zu elf Jahren Haft verurteilt wurde.

Tatsiana Khomich hat das letzte Mal im Juli 2022 mit ihrer Schwester gesprochen

Sie ist Repräsentantin für politische Gefangene des Koordinierungsrates von Belarus, der sich im Exil befindenden „Gegenregierung“ um Svetlana Tichanowskaja. Zum letzten Mal mit ihrer Schwester gesprochen habe sie im Juli 2022.

„Damals waren ihr noch Video-Gespräche erlaubt, für fünf Minuten. Man konnte nicht frei reden, aber man konnte ihr Hoffnung machen – indirekt vermitteln, dass sich viele Menschen für sie einsetzen“, sagt sie. Schon damals sei ihre Schwester mental angeschlagen gewesen, aber „trotzdem sehr stark und kämpferisch“. Rechtsanwälte konnten sie damals noch alle 14 Tage sehen, sie selbst habe ein- bis zweimal im Monat mit ihr gesprochen. Seit Februar hat niemand mehr mit ihr gesprochen. Sie dürfe auch keine Briefe schreiben. „Die Gefängnisleitung antwortet auf Mails von Marias Anwälten, dass sie wohl kein Interesse an Gesprächen mit Anwälten oder mit ihrer Familie habe. Das ist natürlich dreist gelogen.“

Den politischen Gefangenen kann nur die internationale Öffentlichkeit helfen

Khomich erzählt von dem Künstler Ales Pushkin und dem Blogger Nikolai Klimovich, die diesen Sommer in belarussischer Haft gestorben sind. Beiden sei eine medizinische Versorgung vorenthalten worden, die sie dringend gebraucht hätten. Beide waren – wie ihre Schwester – in Isolationshaft. „Die Inhaftierten und das ganze Volk sollen gebrochen werden“, sagt Khomich. Sie befürchte, dass auch ihrer Schwester notwendige Medikamente vorenthalten würden.

Ende 2022 hatte Maria Kolesnikova einen Magendurchbruch und musste operiert werden – seit Februar soll sie anonymen Zeugen zufolge in einer winzigen Einzelzelle sitzen. Schon zuvor hatte sie lediglich sieben Minuten Ausgang pro Tag und pro Woche 20 Minuten Zeit zum Duschen. „Ich hoffe jeden Tag und jeden Moment, dass sie es mental und körperlich aushält“, sagt Tatsiana Khomich. Das Einzige, was Maria Kolesnikova und den Hunderten anderen politischen Gefangenen helfe, sei „internationale Öffentlichkeit – so viel wie möglich“.

Zur Veranstaltung

Tatsiana Khomich spricht am Freitag, 15. Dezember, um 19 Uhr in der Galerie am Neumarkt gemeinsam mit der Anwältin ihrer Schwester, Ludmilla Kazak, und Gerhart Baum über die Situation in Belarus und das Schicksal ihrer Schwester. Moderiert wird das Gespräch von Thomas Roth. Anmeldungen sind notwendig unter info@kopelew-forum.de oder Tel. 0221 257 67 67. Die Veranstaltung wird auch im Live-Stream bei Zoom und Youtube gezeigt.