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„Fremd“ ist keine klassische BiografieFriedman lässt schmerzhaft tief blicken

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Der deutsch-französische Moderator Michel Friedman schreibt in seinem Buch über das universelle Gefühl des „Fremdsein“.

  1. In „Fremd“ schreibt der Publizist Michel Friedman über seine Kindheit und das Erwachsenwerden als Sohn von Holocaust-Überlebenden.
  2. Es ist keine klassische Biografie, die Form erinnert eher an ein Gedicht.
  3. Friedman wollte nicht nur über seine Gefühlswelt und Erfahrungen schreiben, sondern allgemein über das Gefühl des „Fremdseins“.

Köln – Geboren 1956 in Paris, mit zehn Jahren nach Deutschland, in das „Land der Mörder“ gezogen, bis zum 18. Lebensjahr mit dem UN-Flüchtlingspass gelebt. Staatenlos. Heimatlos. Michel Friedmans Kindheit war weit weg von sorgenlos, sein Erwachsenwerden geprägt von den Traumata seiner Eltern, die mit seiner Großmutter über die „Schindlerliste“ gerettet wurden, fast seine gesamte Familie wurde im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau ermordet.

Im „‘Nie wieder‘-Land“ soll es keinen Antisemitismus mehr geben, trotzdem begegnet Friedman nicht nur in seiner Kindheit in Frankreich, sondern auch in Deutschland immer wieder Judenhass, Ausgrenzung, Rassismus. Immer bleibt er fremd. Fremdsein – dieses Gefühl beschreibt er in seiner Biografie, die eigentlich keine sein soll.

Ungewöhnliche Form – fast wie ein Gedicht

„Fremd“ lässt sich nicht in ein Genre einordnen. Das Buch scheint auf den ersten Blick ein langes Gedicht, meist stehen nur drei Wörter in einer Zeile, teils nur eins. Wer ein Reinschema sucht, muss jedoch enttäuscht werden. Mal erzählt Friedman prosaartig Momente seines Erwachsenwerdens nach: Wie sein besorgter Vater ihm Fahrradfahren beigebracht hat oder seine besorgte Mutter mit ihm zum ersten Mal Eis essen war. Dann sinniert Friedman über das Leben, über das „Wir“, das er nicht mag („Das Wir tanzt und lacht, / das Ich trauert und weint“), die Suche nach der eigenen Identität, die Angst vor dem Fremden in sich selbst. „So viel Fremdes, das wir in uns tragen. / So viele Geschichten und Gefühle, / in Schließfächern verschlossen. / Glauben, / wir könnten sie bei vollem Licht nicht aushalten. / Verdrängt und vergessen. / Und trotzdem in uns. / Störend. / Zerstörend.“

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„Fremd“ von Michel Friedman ist im Berlin Verlag erschienen.

Friedman beschreibt seine Mutter, die viel telefoniert, viel schenkt, viel traurig ist. Sein Vater dagegen spricht nicht viel, versucht sich anzupassen, liest jeden Abend die Frankfurter Allgemeine Zeitung, obwohl er kaum versteht, was er liest. Friedmann beschreibt den Druck als Kind von Geflüchteten, ein besseres Leben aufzubauen, glücklich sein zu müssen und die Eltern glücklich zu machen, Chancen zu nutzen. Die Verantwortung als Übersetzer: „Sie können nur schwer antworten. / Das Kind kann für sie antworten. / Sie, die aus Polen gekommen sind, / haben nur wenige Worte gelernt. / Das Kind, das in Paris geboren wurde, / spricht in seiner Muttersprache. / Kindheitsberuf: / Lebensübersetzer.“

Lesung und Buch

Am Freitag, dem 7. Oktober, liest Michel Friedman ab 21 Uhr bei der lit.Spezial im WDR Funkhaus und spricht mit dem Journalisten und Autoren Deniz Yücel über das Fremde in uns und um uns herum. Tickets und weitere Informationen zur Veranstaltung finden Sie hier.

Michel Friedman: „Fremd“, Berlin Verlag, 176 Seiten, Preis: gebunden 20 Euro.

Überraschend persönlich und verletzlich gibt sich der wortgewandte und scharfzüngige Talkmaster. Das macht auch die Form möglich, die Platz für Sentenzen, Aufzählungen, Prosa und Metaphern lässt. Friedman erzählt von Schikanen von Mitschülern, von dem Gefühl, unbedingt dazugehören zu wollen. Davon wie er sich mit 18 Jahren endlich entschließt, dieses „Land der Mörder“, das nicht wie in seiner Erwartung mit vollgestopften Gefängnissen gepflastert war, endlich zu verlassen. Nach New York zu ziehen. Und sich dann doch dagegen entscheidet, weil seine Eltern so traurig gewesen wären.

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Affäre nicht direkt angesprochen

Über seinen Absturz, die „Friedman-Affäre“, schreibt er nicht direkt. 2003 wurde Friedman im Zuge von Ermittlungen wegen Menschenhandels vorgeworfen, mit Zwangsprostituierten Sex gehabt zu haben und Kokain besessen und konsumiert zu haben. Der Kokainkonsum und -besitz wurde ihm nachgewiesen. Im Zuge dieser Affäre trat Friedman von allen öffentlichen Ämtern zurück. Davon ist im Buch kein Wort zu finden, er beschreibt aber die Phase nach dem Tod seiner Mutter in den Neunzigern und wenig später dann dem Tod seines Vaters. Friedman lässt dabei schmerzhaft tief in sein Innerstes blicken, beschreibt die Trauer, die ihn daraufhin befallen hat, ihn nicht losgelassen hat. Ehrlich und ungeschönt gibt er seine Selbstmordgedanken wieder, erzählt von den Tabletten, die er gehortet hat. Für den Fall.

Beratung und Seelsorge in schwierigen Situationen

Kontakte | Hier wird Ihnen geholfen

Wir gestalten unsere Berichterstattung über Suizide und entsprechende Absichten bewusst zurückhaltend und verzichten, wo es möglich ist, auf Details. Falls Sie sich dennoch betroffen fühlen, lesen Sie bitte weiter:

Ihre Gedanken hören nicht auf zu kreisen? Sie befinden sich in einer scheinbar ausweglosen Situation und spielen mit dem Gedanken, sich das Leben zu nehmen? Wenn Sie sich nicht im Familien- oder Freundeskreis Hilfe suchen können oder möchten – hier finden Sie anonyme Beratungs- und Seelsorgeangebote.

Telefonseelsorge

Unter 0800 – 111 0 111 oder 0800 – 111 0 222 erreichen Sie rund um die Uhr Mitarbeiter, mit denen Sie Ihre Sorgen und Ängste teilen können. Auch ein Gespräch via Chat ist möglich. telefonseelsorge.de

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Muslimisches Seelsorge-Telefon

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Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention

Eine Übersicht aller telefonischer, regionaler, Online- und Mail-Beratungsangebote in Deutschland gibt es unter suizidprophylaxe.de

Beratung und Hilfe für Frauen

Das Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen" ist ein bundesweites Beratungsangebot für Frauen, die Gewalt erlebt haben oder noch erleben. Unter der Nummer 08000 116 016 und via Online-Beratung unterstützen werden Betroffene aller Nationalitäten rund um die Uhr anonym und kostenfrei unterstützt.

Psychische Gesundheit

Die Neurologen und Psychiater im Netz empfehlen ebenfalls, in akuten Situationen von Selbst- oder Fremdgefährdung sofort den Rettungsdienst unter 112 anzurufen. Darüber können sich von psychischen Krisen Betroffene unter der bundesweiten Nummer 116117 an den ärztlichen/psychiatrischen Bereitschaftsdienst wenden oder mit ihrem Hausarzt Kontakt aufnehmen. Außerdem gibt es in sehr vielen deutschen Kommunen psychologische Beratungsstellen.

Aber auch wenn Friedman sich am Ende immer noch fremd fühlt und die Narben nicht verschwinden: „Das Kind, / es strampelt, / es kreischt, / es wehrt sich, / es sucht sich, / es bewegt sich, / immer noch, weiter noch. / Das Kind, / es lebt.“ Wortkarg und dabei umso wortgewaltiger beschreibt Friedman das Gefühl des Fremdseins, stellvertretend für alle, die nicht in die Mitte der Gesellschaft passen.