Das Kölner Museum Ludwig zeigt die erste Retrospektive der türkischen Künstlerin außerhalb ihres Heimatlandes. Sie ist eine heitere Lehrstunde in Eigensinn.
Füsun Onur in KölnEine Künstlerin, die sich nicht auf den Begriff bringen lässt
„Ich schaue nicht zurück“, schreibt Füsun Onur, „ich warte aufgeregt auf das, was kommt.“ Im Brief einer 85-Jährigen hätte man das eher nicht erwartet, zumal der Anlass des Schreibens die erste Retrospektive der türkischen Künstlerin außerhalb ihres Heimatlandes ist. Doch Onur, die wegen ihres Alters nicht nach Köln reisen konnte, bleibt sich damit treu. In der türkischen Kunstszene war sie offenbar dafür gefürchtet, einmal ausgestellte Werke in den Bosporus zu werfen, denn die hatten für sie ihre Schuldigkeit getan. Außerdem gab es in ihrer Wohnung wohl wenig Stauraum.
Zum Glück fotografierte Onurs Schwester viele Arbeiten vor der heimlichen Seebestattung, weshalb man jetzt im Kölner Museum Ludwig in einer Rekonstruktion von Onurs saalfüllender Installation „Kontrapunkt mit Blumen“ stehen kann. Das musikalische Treibhaus besteht rundum aus blauer Folie, deren Licht die locker im Raum verteilten Pflanzen in eine ozeanische Stimmung taucht. Einige riesenwüchsige Papierpflanzen sprießen aus dem Boden, dazu tote Zweige, die an Steine wie an Anker gebunden sind; an einigen Ästlein haben sich Stofffetzen verfangen.
In Köln wirkt Onurs Unterwassergarten so frisch wie vor 41 Jahren, als sie den „Kontrapunkt“ als begehbares Gemälde entwarf und, wie es scheint, im Alleingang einen modernen Wettstreit der Künste anzuzetteln versuchte. Onur hatte in Istanbul und Washington Bildhauerei studiert, sich eine Zeitlang mit „Raumteilungen“ auf Papier beschäftigt und in den 1980er Jahren damit begonnen, das räumliche Sehen gegen die flache Malkunst auszuspielen. „Die dritte Dimension in der Malerei – tritt ein“ heißt ein Himmel aus blauen Wollfäden, unter den man sich im Ludwig nun wieder betten kann; die Aufforderung des Titels ist wörtlich gemeint.
Füsun Onur hielt sich nie lange mit einem Thema auf
Allerdings hielt sich Füsun Onur nie lange mit einem Thema auf – sie ließ sich lieber von dem überraschen, was noch kommt. Genau dieser Eigensinn wirkte sich wohl nicht gerade förderlich auf ihre Wahrnehmung in der Kunstwelt aus. Onur war zwar ein gern gesehener Gast auf Biennalen und nahm auch an der Documenta 13 teil. Aber außerhalb ihrer Heimat ist sie bis heute ein Geheimtipp geblieben; daran änderte auch ihr Beitrag für den türkischen Länderpavillon 2022 in Venedig nichts.
Die venezianische Arbeit füllt jetzt den großen DC-Saal des Ludwig mit einer Miniaturgeschichte von Katze und Maus. Unter dem Titel „Es war einmal ...“ begegnen uns Hunderte zauberhafte Drahtfiguren, mit denen Onur auf 21 Tischen die Rettung der Welt vor Konsum und Ausbeutung durchspielt. Es ist zwar nicht ganz leicht, der Handlung zu folgen, aber man staunt, wie es der Künstlerin gelingt, mit Tüll, Pingpongballköpfchen und einigen wenigen Requisiten ein modernes Märchen zu erzählen.
Auch an anderer Stelle erweckt Onurs Kunst den Anschein, als würde sie aus dem Koffer leben. Für „Opus II Fantasia“ (eine weitere Rekonstruktion) braucht sie lediglich Stricknadeln, goldene Knäuel und Schnüre sowie kleine Porzellanfrauen, um in wechselnden Arrangements einen langgestreckten Saal zu füllen. Onur sieht in den über den Boden verteilten Haushaltsgegenständen eine begehbare Partitur, und wer lange genug horcht, hört vielleicht das sanfte Klicken der Stricknadeln im Rhythmus geometrischer Figuren. Einige auf Kipp gestellte weiße Sockel glichen dann dramatischen Generalpausen – Onur liebt es, klassische Ausstellungsverhältnisse ins Ungleichgewicht zu bringen.
Es gibt einige Leitmotive in der von Barbara Engelbach und Emre Baykal entworfenen Retrospektive: die Musik, die Farbe Blau oder die Vorstellung von der Skulptur als Erlebnisort und Bühne. Aber auf einen Begriff zu bringen ist Füsun Onur nicht, man weiß bei ihr im Grunde nie, was einen erwartet. Mal stößt man auf einen Leinenschlauch mit Blasebalg (ein Gegenbild zur ewigen Skulptur), mal sieht man ein gemaltes Mädchen, das im Laufe einer vierteiligen Bildergeschichte die Leinwand, auf der sie lebt, in Stücke reißt; es gibt ein Bühnenbild alter, magisch aufgeladener Möbel und eine mit Satin ausgekleidete Schatulle, die statt Schmuck das in den Stoff gedrückte Wort „Istanbul“ enthält.
Bei ihrer Heimatstadt wird Onur ausnahmsweise sentimental. Als die historische Galatabrücke bei einem Brand zerstört wurde, entwarf sie zum Gedenken ihre eigene Schwimmbrücke – in Form von vier rosafarbenen Gummibooten, die, aneinander gebunden, auf den Wellen tanzen, ohne dabei voranzukommen. Das Video dauert acht Stunden und ist eine Litanei in bewegten Bildern. So gibt der Bosporus etwas von dem zurück, was ihm Füsun Onur so freimütig überlassen hat.
„Füsun Onur – Retrospektive“, Museum Ludwig am Dom, Köln, Di.-So. 10-18 Uhr, 16. September 2022 bis 28. Januar 2024. Eröffnung: Freitag, 15. September, 19 Uhr. Der Katalog zur Ausstellung erscheint in etwa zwei Wochen im Verlag der Buchhandlung Walther und Franz König.