Milo Rau gilt als einer der besten Regisseure der Welt. Außerdem ist er Wahlkölner. Jetzt gastiert sein Stück „The Interrogation“ am Schauspiel Köln.
Gastspiel in KölnWie Milo Rau aus einer gescheiterten Premiere sein bestes Stück gemacht hat
Die „New York Times“ hat ihren Lesern Milo Rau als „den umstrittensten Theatermacher der Welt“ vorgestellt und es ist nicht von der Hand zu weisen, dass viele Arbeiten des Schweizer Regisseurs Skandale und hysterische Verbotsversuche nach sich zogen. Dabei ist sein Theater kein lautes, seine Provokationen sind wohlüberlegt, seine Inszenierungen so nah an den Schauspielenden wie an ihren oft hochpolitischen Themen. Am 16. und 17. November gastiert Rau mit „The Interrogation“, einer seiner erfolgreichsten Produktionen, am Schauspiel Köln. Wir treffen ihn zusammen mit seinem Hauptdarsteller Arne De Tremerie in seiner Kölner Wohnung. Der Leiter der Wiener Festwochen und der belgische Schauspieler bereiten dort eine Arbeit für das Avignon-Festival vor, „The funniest, most touching play ever“ soll sie heißen.
Milo Rau, am Wochenende gastieren Sie am Schauspiel Köln mit „The Interrogation“, einem Monolog, den Sie gemeinsam mit dem französischen Bestseller-Autor Édouard Louis erarbeitet haben. Es ist eine ihrer erfolgreichsten Produktionen, aber am Anfang stand ein Scheitern, nicht wahr?
Milo Rau: Das Brüsseler Kunstenfestivaldesarts hatte Édouard gefragt, ob er mit mir zusammenarbeiten wolle. Das wollte er: Er mag meine Arbeiten, ich mag seine Bücher. Und dann haben wir uns einige Male getroffen und das Stück zusammen geschrieben.
Das Stück ist, wie alle Bücher von Édouard Louis, autobiografisch. Was haben Sie eingebracht?
Rau: Ich habe ihn eingeladen, mir alles zu erzählen – einfach alles. Morgens erarbeitete ich daraus dann einen Akt des Stücks, am Nachmittag gab ich Édouard den Text zur Überarbeitung. Dann schrieb ich den nächsten Teil und so weiter. Bei der Überarbeitung habe ich existenziellen Fragen eingebaut, Impressionen, Brüche. Édouard sagte über den fertigen Text: Es ist wie das, was ich mache – plus Beckett. Sein Stil erinnert an Camus, immer ein Satz nach dem anderen. Ich habe all diese Beckett'schen oder Brecht'schen Spiegelspiele eingebaut, denn das ist meine Obsession. Das hat zusammen sehr gut funktioniert.
Der Text handelt von Louis‘ Bemühen, seiner Herkunft zu entfliehen, aber auch der Einsamkeit des Schriftstellers. Und auch von seinem Traum, ein Schauspieler zu werden. Warum steht er dann nicht selbst auf der Bühne?
Rau: Ich hatte das Stück zwei Wochen lang mit Édouard als Schauspieler inszeniert. Als wir so gut wie fertig waren, ein paar Tage vor der Premiere, kam er zu mir und sagte: „Milo, ich kann das nicht spielen. Es ist zu schwer für mich.“ Also musste ich die Premiere absagen, das war nicht gerade der glücklichste Moment meines Lebens.
Was fiel ihm denn so schwer?
Rau: Wenn Sie das Stück sehen, werden Sie es verstehen. Das Stück beginnt mit einem Brief, den Édouard mir geschrieben hat, bevor wir überhaupt angefangen hatten. In dem erklärt er schon, dass er nicht schauspielern will. Der Text ist eine Art Selbst-Dekonstruktion, die die Methode von Édouard und mir grundsätzlich infrage stellt: nämlich die Welt durch die Biografie eines Menschen zu verstehen. Ich nehme dazu die Biografien anderer, er nimmt seine eigene Biografie. Aber wir beide haben diese philosophische Idee dabei, dass man sich von seiner Herkunft befreien kann. Und das Stück sagt: Es gibt keinen Ausweg aus der eigenen Biografie. Man kann sich nicht durch Kunst befreien. Am Ende wirst du dich nur wiederholen, weil das Leben ein solipsistisches Spiegelspiel ist, bei dem du am Ende immer wieder nur dich selbst findest.
Das hätte das Ende von „The Interrogation“ sein sollen. Wie ging es dann trotzdem weiter?
Rau: Ein Festival in Amsterdam gab Édouard Carte blanche, und er wünschte sich, das Stück doch noch auf die Bühne zu bringen, als Lesung. Und dann habe ich den belgischen Schauspieler Arne De Tremerie angerufen und wir haben es sehr schnell inszeniert, in einer Woche.
Arne De Tremerie: Eineinhalb Wochen. Ich konnte meinen Text, ich lerne schnell, und so wurde aus der Lesung eine richtige Aufführung. Das Schöne an der Arbeit mit Milo ist, dass er dir den Freiraum gibt, den Text zu entdecken und die Art und Weise, wie du ihn spielen willst. Die Proben verlaufen sehr organisch, und wenn etwas fließt, sollte man es nicht infrage stellen. Das ist das Erste, was ich nach der Theaterschule gelernt habe: Es ist gut, nicht zu viele Fragen zu stellen, denn das kommt von der Unsicherheit und man sollte auf der Bühne niemals unsicher sein.
Aber wie haben Sie so kurzfristig Zugang zu einem derart persönlichen Text gefunden?
De Tremerie: Das lag daran, dass ich viele Fragen und viele Dinge wiedererkenne, die Édouard in seinem Leben begegnet sind. In gewisser Weise ist mir das Stück also sehr nahe, aber gleichzeitig ist es auch sehr weit weg. Das ist ein dialektisches Spiel: Man ist mit einer sehr persönlichen Biografie konfrontiert, aber findet in dieser Biografie etwas zutiefst Universelles. Jeder weiß zum Beispiel, was es bedeutet, ausgeschlossen zu sein, wie es sich anfühlt, außerhalb einer Gruppe zu stehen. Das ist der Zauber des Stücks.
Rau: Es ist das schnellste Stück, das ich jemals gemacht habe. Aber einige Kritiker sagten: Es ist das einfachste Stück von Milo, aber sein Bestes. Manchmal tötet man ein Stück, wenn man zu lange nachdenkt und probt. Und Monologe können sehr stark sein, wenn es darum geht, die tiefe, unentrinnbare Einsamkeit der Existenz zu zeigen.
Jetzt führt Arne De Tremerie als Édouard Louis eine Art Dialog mit seinem eigenen Spiegelbild, dem echten Autor als Videoaufzeichnung.
Rau: In vielen Theatern braucht das Publikum wirklich Zeit, um zu verstehen, dass es sich nicht um ein und dieselbe Person handelt. Als wir das Stück vor zwei Jahren in Paris gezeigt haben, hörte ich zwei Frauen, die aus dem Theater kamen, sagen: „Ich verstehe nicht, warum Édouard Louis heute flämisch gesprochen hat.“ Es macht so viel Sinn, dass der Autor von jemand anderem verkörpert wird, dass ich mich, als ich es das erste Mal mit Arne sah, fragte: Warum haben wir das nicht gleich so gemacht? Warum musste ich all das zuerst mit Édouard inszenieren?
Es ist, über Umwege, ein geradezu idealtypischer Milo-Rau-Abend geworden.
Rau: Ja, auf eine sehr reine Art und Weise. Wir hatten nach der gescheiterten Uraufführung in Brüssel unsere Finanzierung verloren. Deswegen gibt es auf der Bühne nur einen Stuhl, eine Leinwand und eine Kamera – und das war's. Aber es ist schön, zu den Grundlagen des Theaters zurückzukehren: Schaut mich an, ihr seid das Publikum, ich werde versuchen, einige Dinge auf dieser Bühne herauszufinden, indem ich uns alle repräsentiere.
Arne De Tremerie, Sie stehen jetzt schon seit drei Jahren als Édouard Louis auf der Bühne. Hat sich in der Zeit ihr Spiel verändert?
De Tremerie: Es war mein erster Monolog, das war am Anfang super beängstigend für mich. Jetzt habe ich mehr Selbstvertrauen, ich bin viel entspannter und beweglicher geworden. Vor allem aber spricht die Geschichte die Menschen in verschiedenen Kontexten ganz unterschiedlich an. Als wir „The Interrogation“ in China gespielt haben, ging es dem Publikum zum Beispiel zuerst einmal darum, dass hier ein homosexueller Mann auf einer Bühne, in aller Öffentlichkeit spricht.
Rau: Letzten Endes fragt „The Interrogation“, was es bedeutet, Theater zu schreiben oder zu spielen. Warum tun wir das? Man fühlt sich ausgeschlossen, möchte eine Art Mittelpunkt finden. Man möchte, so einfach ist das, den Beifall der Leute gewinnen, die einen in der Schule verprügelt haben. Aber wenn man ihn bekommt, was dann? Man bleibt, wer man ist.
„The Interrogation“, von Édouard Louis & Milo Rau, 16.11. 20 Uhr, 17.11., 18 Uhr, 70 Minuten, keine Pause, Depot 2, auf Niederländisch, mit deutschen und englischen Übertiteln.