Geist in der Geisterstadt

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Wer hätte gedacht, dass die Corona-Krise ausgerechnet Musiker zu Großtaten motivieren würde, die längst zur Risikogruppe gehören? So hatte Bob Dylan bereits am 27. März mit „Murder Most Foul“ seinen ersten neuen Song seit acht Jahren veröffentlicht, und drei Wochen darauf mit „I Contain Multitudes“ gleich noch einen zweiten. Vor allem ersterer, in dem der eigenbrötlerische Literaturnobelpreisträger in rekordverdächtigen 17 Minuten ohne erkennbare Melodie von Amerikas Niedergang seit der Ermordung John F. Kennedys fabuliert, darf als großes Statement zur Zeit gelten.

Noch weniger hätte man freilich damit gerechnet, dass die Rolling Stones abseits ihrer ungemein lukrativen Stadiontourneen noch etwas zu sagen hätten. Doch am Donnerstagabend stellte die ehemals, also vor mehr als 40 Jahren, gefährlichste Band der Welt, eine neue Single ins Netz, „Living in a Ghost Town“. Auch in ihrem Fall die erste Eigenkomposition seit acht Jahren. „A Bigger Bang“, das bislang letzte Album mit eigenem Material, hat sogar schon 15 Jahre auf dem Buckel und enthält keinen einzigen Song, der es auf die Setlisten ihrer Konzerte geschafft hat.

Umso mehr verwundert – und begeistert – es, dass „Living in a Ghost Town“ ein ganz wunderbar schmieriges Rock-Reggae-Stück ist, wie es die Band seit „Cherry Oh Baby“ und „Hey Negrita“ auf „Black and Blue“ aus dem Jahr 1976 immer mal wieder aufgenommen hat. Angeblich hat Mick Jagger den Song in zehn Minuten geschrieben, zusammen mit der Band kurz vor dem Lockdown aufgenommen und in der Quarantäne daran weitergearbeitet. Das kann man im Text nachhören: „Life was so beautiful, then we all got locked down, feel like a ghost, living in a ghost town“, singt Jagger. Und wer fühlte sich dieser Tage nicht wie ein Geist in einer Geisterstadt?

Die Rolling Stones

Verhallte Mundharmonika

Wie großartig dann sein übersteuertes Mundharmonika-Solo – Jaggers Soli waren schon der Höhepunkt auf dem 2016er Blues-Cover-Album „Blue & Lonesome“ – und die verhallten Dub-Passagen zu den Bildern leer gefegter Plätze und Straßen passen, die das kurz darauf veröffentlichte Video zeigt!

„Ich gehe nirgendwo hin“, klagt Jagger, „ich starre nur auf mein Telefon.“ Aussagen, die derzeit jedermann teilen kann, aber sie mussten eben erstmal zur passenden Musik gesetzt und mit „Woah hoho“ hören unterlegt werden. Die Rolling Stones hatten bereits vergangene Woche mit ihrem Resignations-Klassiker „You Can’t Always Get What You Want“ den schönsten Heimauftritt von Lady Gagas „One World: Together At Home“-Festival, jetzt haben sie uns den besten Corona-Song geschenkt.

Es heißt, „Living in a Ghost Town“ sei nur ein Vorgeschmack auf ein kommendes Album. Dass man noch mal einer neuen Stones-Veröffentlichung entgegenfiebert, ist doch auch eine schöne Überraschung.

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