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Gemälde von TizianDer Gründungsmythos von Europa hat Künstler immer fasziniert

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Tizian malte „Der Raub der Europa“ Mitte des 16. Jahrhunderts

  1. Als der italienische Renaissancemaler Tizian (1488–1567) sein Gemälde „Der Raub der Europa“ schuf, gehörte der antike Europa-Mythos zur Pflichtlektüre der Gebildeten.
  2. In der Antike gab es sehr viele unfreundlichere Deutungen des mythischen Geschehens.
  3. Im 20. Jahrhundert bekam der Mythos dann nochmal eine ganz andere Bedeutung zugewiesen.
  4. Eine Bildbetrachtung.

Köln – Wer kann schon einem Ochsen widerstehen, spottete der Dichter Heinrich Heine über den Gründungsmythos von Europa, und tatsächlich schaut uns der als Stier verkleidete Zeus auf diesem Gemälde eher treuherzig als göttlich an. Die leicht bekleidete Königstochter auf seinem Rücken weiß derweil nicht so recht wie ihr geschieht und lässt sich auch von den triumphierenden Liebesknaben nicht beruhigen. Wie denn auch? Das Bild ist ein einziger Taumel: Alles stürzt übereinander, prescht voran, durchpflügt die Wellen oder löst sich wie Landschaft und Himmel vor unseren Augen auf.

In Liebe entbrannt

Als der italienische Renaissancemaler Tizian (1488–1567) sein Gemälde „Der Raub der Europa“ schuf, gehörte der antike Europa-Mythos zur Pflichtlektüre der Gebildeten. Auch Tizian dürfte bei Ovid gelesen haben, wie sich der in Liebe entbrannte Zeus in einen Stier verwandelt, sich von der schönen Jungfrau aus dem Nahen Osten einen Blumenkranz flechten lässt und – nachdem sich diese vertrauensselig auf seinem warmen Rücken ausstreckte – mit seiner Beute ins nahe gelegene Mittelmeer ausreißt.

Erst auf griechischem Boden, der Insel Kreta, zeigt sich der allmächtige Gott in seiner wahren Gestalt, um mit Europa drei Helden zu zeugen. Seitdem hört der Kontinent auf den Namen der geraubten Frau – jedenfalls glauben wir das heute gerne. Genauso gut könnte sich Europa vom altgriechischen Wort „erebos“ für „dunkel“ ableiten; es stünde dann symbolisch für das Abendland.

Närrischer Wahnsinn

Bei Ovid ist die Europa-Sage ein auf Zeus gemünztes Beispiel für den närrischen Wahnsinn, in den die Liebe Menschen und Götter stürzen kann: „Schlecht vertragen sich Würde und Liebe; selten wohnen sie beisammen!“ Bei Tizian kommt noch der Schrecken hinzu, mit dem dieser plötzlich losbrechende Wahnsinn Europa und ihre am Strand zurückgebliebenen Gefährtinnen erfüllt. Mit den drei geflügelten Amoretten zu Luft und im Wasser scheint der Maler das gute Ende deshalb vorwegnehmen zu wollen: Ist der Schrecken erst einmal verflogen, bleibt allein die Verzückung der Liebe zurück. Oder versuchen die drallen Kerlchen nur zu retten, was nicht mehr zu retten ist?

Feind der Keuschheit

Bereits in der Antike gab es nämlich sehr viel unfreundlichere Deutungen des mythischen Geschehens. In ihnen wird Zeus als Feind der Keuschheit und geradezu als Triebtäter gescholten, was angesichts seines langen Sündenregisters nicht weiter verwunderlich erscheint. Der antike Gott zeugte nicht nur vier Kinder mit seiner Schwester Hera, er wechselte auch viele Male die Gestalt, um sich ahnungslosen Frauen zu nähern und sie anschließend zu verführen. Dafür gab er sich etwa als Adler, Ameise, Schwan, Kuckuck, Schlange und Ehemann einer Auserwählten aus; die Königstochter Danaë befruchtete er als goldener Regen.

Erstaunlich ist hingegen, wie sich das Christentum den moralisch anrüchigen Mythos zurecht bog: Aus Zeus wurde Jesu, der den Menschen in verwandelter Gestalt erscheint, um den Kontinent Europa ins Himmelreich zu führen. Aus dieser christianisierten Lesart entwickelten sich die späteren harmonischen Darstellungen, in denen aus der Entführung eine Verführung mit wechselnden Rollen und aus Zeus mitunter das Liebesopfer der auf ihm thronenden Europa wird. Auf einem berühmten Gemälde von 1550 zeigt Paolo Veronese den Frauenraub als Aufbruch in die Flitterwochen. Die Moderne entdeckte den bei Tizian betonten Schrecken wieder: Für Max Beckmann symbolisierte die junge Frau den vom Krieg geschundenen Kontinent.

Im 20. Jahrhundert wurde der Mythos zudem zum Menetekel für die fortdauernde Unterdrückung der Frau im aufgeklärten Europa. Tatsächlich gehört es zu den seltsamsten Widersprüchen des Europa-Mythos, dass der von den Griechen als Inbegriff der Vernunft verehrte Zeus zugleich als skrupelloser Lüstling durch die antiken Sagen streifte. Gerade diese allzu menschliche Natur sicherte ihm gleichwohl ein langes Leben in Kunst und Literatur: An seinem Muster ließ sich die Widersprüchlichkeit des zu Vernunft und Unvernunft gleichermaßen fähigen Menschen ins Überlebensgroße steigern, und dank Zeus’ heidnischer Natur konnte sich der gebildete Christ zumindest über die schlimmsten Auswüchse seiner Lüsternheit erhaben fühlen. Oft diente das warnende Beispiel allerdings auch dazu, unter dem Deckmantel der Mythen in Freizügigkeit zu schwelgen.

Vernunft und Gewalt

So erscheint der Europa-Mythos durchaus als passender Grund für das christliche Abendland; die europäische Geschichte steht ja ganz besonders dafür ein, dass Vernunft und Gewalt, Selbstlosigkeit und Machtstreben kaum voneinander zu trennen sind. Zumal Zeus’ Vielweiberei nicht nur die Sagenwelt verlässlich mit neuen Halbgöttern versorgte, sondern auch politische Herrschaftsansprüche zu begründen half. Aus Minos, dem ältesten Sohn, den Zeus mit Europa zeugte, wurde der Sage nach der König von Kreta, woraus sich für das nach diesem benannte minoische Zeitalter eine höhere Weihe ableiten ließ. Umgekehrt wurde der Mythos schon früh auf menschliches Maß gestutzt: Der antike Historiker Herodot stufte Gottvater Zeus zum kretischen König herab, der Europa aus Rache für eine vorangegangene Entführung auf seinem Schiff verschleppte. Es gibt offenbar keinen Mythos ohne Politik – und umgekehrt.