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Kommentar

Genderdebatte
Wie Alice Schwarzer und J.K. Rowling eine Frau zum Mann machen wollen

Ein Kommentar von
Lesezeit 4 Minuten
01.08.2024, Frankreich, Paris: Olympia, Paris 2024, Boxen, Frauen, 66kg, Achtelfinale, Khelif (Algerien) - Carini (Italien)

Imane Khelif (l.) boxt gegen Angela Carini.

Der kurze Boxkampf der Algerierin Imane Khelif zieht eine lange Debatte nach sich. Anti-Trans-Aktivisten laufen Sturm.

Nur 46 Sekunden benötigte die algerische Boxerin Imane Khelif am Donnerstag für ihren Sieg im Weltergewicht-Achtelfinale bei den Olympischen Sommerspielen. Ihre italienische Gegnerin Angela Carini hatte nach zwei Kopftreffern über Schmerzen in der Nase geklagt und aufgegeben. Kurzer Kampf, klare Entscheidung. Möchte man meinen.

Doch einige Kommentatorinnen und Kommentatoren wollen in diesen 46 Sekunden etwas völlig anderes gesehen haben. Nämlich, wir zitieren die Harry-Potter-Autorin J.K. Rowling, „einen Mann, der weiß, dass er von einer frauenfeindlichen Sport-Organisation geschützt wird, die sich an der Not einer Frau erfreut, der er gerade einen Kopfschlag versetzt hat“. „Männer gehören nicht in Frauensportarten“, pflichtete Elon Musk der US-Schwimmerin Riley Gaines bei.

Und für Alice Schwarzer war der „tragische Boxkampf“ ein schlagender Beweis gegen die Behauptung, „ein als Mann geborener Mensch könne durch Hormone und Operationen einen Körper wie eine Frau haben“. Das sagte die Frauenrechtlerin der „Neuen Osnabrücker Zeitung“. Auch die italienische Ministerpräsidentin Meloni prangert einen „ungleichen“ Kampf an: „Ich denke, Athletinnen mit männlichen genetischen Merkmalen sollten nicht an Frauen-Wettbewerben teilnehmen dürfen. Nicht, weil wir jemanden diskriminieren wollen, sondern um das Recht der weiblichen Athleten zu schützen.“

Die Empörung der Anti-Trans-Aktivisten fußt auf einer Entscheidung der International Boxing Association (IBA). Der unter anderem aufgrund von Korruptionsvorwürfen und seiner finanziellen Abhängigkeit vom russischen Konzern Gazprom in Verruf geratene und vom IOC von der Ausrichtung olympischer Wettkämpfe suspendierte Boxverband hatte Imane Khelif und die ebenfalls in Paris antretende taiwanesische Boxerin Lin Yuting 2023 von der Boxweltmeisterschaft in Indien disqualifiziert. Khelif durfte nicht zum Kampf um die Goldmedaille antreten. Yuting wurde nachträglich die Bronzemedaille aberkannt.

Imane Khelif und Lin Yuting sind nicht transgender

Die beiden Athletinnen hätten nach Tests nicht die in den IBA-Regeln festgelegten Teilnahmekriterien für den Frauenwettbewerb erfüllt. Über die Einzelheiten dieser Tests schweigt sich die Boxing Association aus, allerdings hätten sich die Boxerinnen nicht, wie zuerst vielerorts berichtet, einer Testosteron-Untersuchung unterziehen müssen.

Weder Lin Yuting noch Imane Khelif sind transgender. Das heißt: Beiden wurde bei der Geburt das weibliche Geschlecht zugewiesen, mit dem sich auch beide identifizieren. Das Olympische Komitee widerspricht folglich der Einschätzung des IBA: „Diese Boxerinnen sind absolut startberechtigt“, so IOC-Sprecher Mark Adams. „Sie sind Frauen, die in ihren Pässen eingetragen sind, sie sind Frauen, die an den Olympischen Spielen in Tokio teilgenommen haben und seit vielen Jahren Wettkämpfe bestreiten.“ Man solle keine Hexenjagd und keinen Kulturkrieg auf den Rücken der Sportlerinnen austragen.

Genau das passiert aber gerade. Die Behauptungen von Rowling, Musk, Schwarzer und Meloni sind schlicht und einfach falsch, wenn sie nicht sogar bewusst irreführend sind. Khelif und Yuting sind Athletinnen und damit genauso schützenswert wie ihre Kolleginnen und Konkurrentinnen.

Die Natur schert sich nicht um menschengemachte Geschlechtskriterien

Aber auch wenn die Kurzschluss-Reaktion „Mann schlägt Frau“ hanebüchen ist, liegt ihr doch eine reale Problemstellung zugrunde. Wettkämpfe im Leistungssport werden bekanntlich in der Regel nach Männern und Frauen eingeteilt. Leider schert sich die Natur nicht um menschengemachte binäre Geschlechtskriterien. Zwischen den Polen Frau und Mann existiert ein breites Spektrum. Andere bevorzugen das Bild eines Mosaiks, denn das biologische Geschlecht – zitiert die US-Autorin Katie Barnes einen Endokrinologen in ihrem Buch „Fair Play: How Sports Shape the Gender Debates“ – besteht aus dem Zusammenspiel und der Gesamtheit der Geschlechtschromosomen, der Sexualhormone, der inneren Fortpflanzungsorgane und der Keimdrüsen sowie der äußeren Geschlechtsorgane.

Mit anderen Worten: Es ist kompliziert. Und das ist keine woke Gender-Ideologie, wie der Papst, evangelikale Republikaner oder J.K. Rowling glauben, sondern schlicht Biochemie.

Im Rahmen einer vor zehn Jahren vom IOC und der Welt-Anti-Doping-Agentur in Auftrag gegebenen Studie wurden die Testosteronwerte von knapp 700 Leistungssportlerinnen und -sportlern getestet. 16,5 Prozent der Männer hatten niedrige, 13,7 Prozent der Frauen hohe Testosteronwerte, mit erheblichen Überschneidungen zwischen den beiden Gruppen. Dass eine Boxerin von höheren Testosteronwerten profitieren kann, versteht sich von selbst. Doch ebenso profitiert sie von besseren Trainingsmöglichkeiten, von ihren wirtschaftlichen Ausgangsbedingungen, von der Akzeptanz des Sportes in ihrer Gesellschaft und natürlich auch von allen anderen individuellen Ergebnissen der genetischen Lotterie.

Ginge es nur um Fairness, gäbe es also vielerlei Stellschrauben, an denen man ansetzen könnte. Aber darum geht es der unheiligen Allianz aus Rechtspopulisten und Anti-Trans-Feministinnen ja gar nicht. Ihnen liefert Imane Khelifs 46-Sekunden-Sieg nur ein anschauliches Totschlagargument für ihre Gender-Ängste, allen Tatsachen zum Trotz.