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Buch der StundeWarum jetzt so viele Neuübersetzungen von „1984“ erscheinen

Lesezeit 4 Minuten
Orwell 1984

Szene aus der Verfilmung von „1984“

Es spricht einiges dafür, dass „1984“, George Orwells letztes und berühmtestes Buch, ihn umgebracht hat. Ausgerechnet der frühe Tod des Autors sorgt dafür, dass das Buch nun erneut im Mittelpunkt der Diskussion steht.

Falls diese überhaupt jemals wirklich abgerissen ist. Denn bis heute, mehr als 70 Jahre nach seiner Veröffentlichung, ist der Einfluss des dystopischen Romans ungebrochen. „Orwell“ und „1984“ gelten geradezu als Synonyme für den Überwachungsstaat. Und fast jeder weiß, was mit „Big Brother“, mit „Doppeldenk“ und „Neusprech“ gemeint ist.

Die Entstehung des Romans zeugt von erstaunlicher Rücksichtslosigkeit gegen die eigene Person: Kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Tod seiner Frau zieht sich Orwell zum Schreiben in die Einsamkeit der schottischen Hebriden-Insel Jura zurück.

Roman als Vermächtnis

„Der letzte Mann in Europa“ soll sein nächster Roman heißen, es klingt wie eine Selbstbeschreibung. Mit Orwells Gesundheit steht es nicht zum Besten. Der Winter 1946/47 ist einer der kältesten des Jahrhunderts, und im darauffolgenden Sommer wird er nach einem Bootsunfall aus dem eiskalten Meer gezogen. Sein Husten wird immer schlimmer, Ende des Jahres wird eine Tuberkulose bei ihm diagnostiziert, doch er schreibt weiter an seinem Buch, von dem ahnt, dass es sein Vermächtnis wird. „Nineteen Eighty-Four“, wie der Roman nun heißt, erscheint im Juni 1949. Anderthalb Jahre später, am 21. Januar 1950, stirbt Orwell im Alter von nur 46 Jahren.

Das ist tragisch. Aber es bedeutet auch, dass nun, 70 Jahre später, nach britischem Recht das Urheberrecht für die Werke von Eric Arthur Blair, so der bürgerlicher Name des Autors, erlischt. Weshalb dieser Tage im deutschsprachigen Raum eine ganze Reihe von Neuübersetzungen von „1984“ erscheinen, unter anderem bei dtv, Insel, Manesse und Fischer.

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Für welche soll man sich entscheiden? Schauen wir uns den ersten Satz des Romanes an: „It was a bright cold day in April, and the clocks were striking thirteen.“ Eike Schönfeld übersetzt für Insel: „Es war ein heller, kalter Apriltag, und die Uhren schlugen dreizehn.“ Gisbert Haefs präzisiert für Manesse: „ Es war ein klarer, kalter Tag im April, und die Uhren schlugen dreizehn.“ Frank Heibert greift für Fischer radikaler in den Text ein und wechselt ins Präsens: „Es ist ein strahlendkalter Apriltag, und gerade schlägt’s dreizehn.“

Das macht insofern Sinn, als es im Englischen ja nur „one o’clock (p.m.)“ schlagen kann, und niemals dreizehn: Hier aber verkünden gleich im ersten Satz alle Uhren, dass die normale Zeit aus den Fugen geraten ist. Und sich niemand daran stört. In Lutz-W. Wolffs dtv-Übersetzung werden alternative Fakten im Stil von Zeitungsschlagzeilen geschaffen: „Es war ein heller, kalter Apriltag. Die Uhren schlugen dreizehnmal.“

Eine Woche Hass

Gleich auf der ersten Seite des Romans kommen zwei von Orwells Erfindungen vor, die in den allgemeinen Sprachgebrauch übergegangen sind: die „HateWeek“ und der in Großbuchstaben abgedruckte Slogan „BIG BROTHER IS WATCHING YOU“. Hier bleibt Wolff nah am Original, belässt der „HassWoche“ die Binnenmajuskel und den Slogan im Englischen, auch in Deutschland wird ja eher das Original verwendet. Gisbert Haefs’ Großer Bruder „BEOBACHTET DICH“, während es bei Eike Schönfeld heißt „HAT DICH IM BLICK“. Das ist weniger direkt als „SIEHT DICH“, wofür sich Frank Heibert entscheidet, dafür aber beängstigender. Umso inspirierter ist dafür Heiberts „eine Woche Hass“ – das klingt wie ein zynisches Fernsehspecial.

Die Auswahl fällt schwer. Plötzlich gibt es viele Orwells. Was durchaus passt, denn „1984“ wird heute von links wie von rechts als Argumentationshilfe herangezogen Im Vorwort der dtv-Ausgabe zitiert der Grünen-Vorsitzende Robert Habeck verbale Ausfälle der AfD als Beispiele fürs Orwell’sche Neusprech: „Wenn etwa die Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland als »Vogelschiss« und das Holocaust-Mahnmal als »Denkmal der Schande« bezeichnet wird, wie es AfD-Politiker tun, dann soll damit die gemeinsame Erinnerung, auf der unsere freiheitliche Rechtsordnung aufgebaut ist, zerstört werden.“ Freilich ist das Neusprech im Roman um einiges subtiler als die doch eher grobschlächtigen Provokationen der AfDler.

Gendersternchen als Neusprech

Und ausgerechnet Lutz-W. Wolff, Übersetzer der Habeck-Ausgabe, führt im Gespräch mit der „Abendzeitung“ „sprachliche Verrücktheiten wie Gendersternchen, die uns momentan aufgedrückt werden“ als typisches Exempel für Neusprech an: Political Correctness sei genau das, wogegen Orwell angeschrieben habe. Als wären solche sprachlichen Korrekturen nicht Ergebnis einer offen geführten Diskussion, sondern bösartige Manipulationen eines „Wahrheitsministeriums“.

Am Ende werden die Neuübersetzungen von „1984“ wohl weniger literarische Betrachtungen nach sich ziehen, als den verfeindeten Lagern Munition im Kampf um die Meinungsvorherrschaft liefern. Was wiederum dafür spricht, dass wir die Dauerparanoia und Doppeldenk-Welt des Romans längst übertrumpft haben.