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GeschichteDer Wiederentdecker der Antike

Lesezeit 5 Minuten

Denkmal von Johann Joachim Winckelmann in Stendal

Der Mann ist einem breiteren Publikum im Wesentlichen durch zweierlei bekannt: durch seine Rede von der "edlen Einfalt und stillen Größe", die, bezogen auf die Statue der griechischen Antike, zur Leitformel für den Kunstdiskurs des 18. Jahrhundert wurde. Und - sehr im Kontrast dazu - für sein elendes Ende am 8. Juni 1768 in der damals zum habsburgischen Österreich gehörenden italienischen Adria-Stadt Triest.

Um mit letzterem zu beginnen: Johann Joachim Winckelmann, seit langen Jahren in Rom ansässig, hatte Süddeutschland und Wien besucht, wo der längst europaweit berühmte Kunsthistoriker und Altertumsforscher sogar von Maria Theresia empfangen worden war. Auf der Rückweise machte der homoerotisch Veranlagte dann in einem Hotel in Triest die Bekanntschaft eines vorbestraften Kochs, dem er arglos-prahlerisch seine ihm von der Kaiserin verliehenen Medaillen zeigte. Versuche des anderen, ihm diese Schätze gewaltsam zu entwenden, endeten in einer Messerstecherei, der Winckelmann zum Opfer fiel. Der noch auf Hinweise des Sterbenden hin rasch ermittelte Mörder wurde in Triest öffentlich gerädert.

Fürwahr das schäbige Schicksal eines großen Mannes, der vor 300 Jahren geboren wurde - am 9. Dezember 1717 im brandenburgischen Stendal als Sohn eines Schusters. Die Wiederentdeckung der Antike im 18. Jahrhundert - sie ist wesentlich ihm zu verdanken, mit ihr hat er gerade die deutsche Bildungssphäre in kaum zu überschätzender Weise beeinflusst: Lessing, Moritz, vor allem aber die Weimarer Klassik mit Goethe und Schiller - ihre Formation und Programmatik ist ohne Winckelmann schlicht nicht vorstellbar. Goethes Blick auf das "klassische" Italien während seiner großen Romreise von 1786 bis 1788 - es war auf weite Strecken ein Blick durch die Brille Winckelmanns. Und noch 1805 - also zu einer Zeit, da er sich von dessen Einfluss ein gutes Stück weit freigemacht hatte - veröffentlichte er eine Schrift, in der er dem lange Verblichenen höchste Anerkennung zollte. Ihr bezeichnender Titel: "Winckelmann und sein Jahrhundert".

Im Unterschied zu Goethe hatte sich der Gepriesene seine Position und Wirkungsmöglichkeit hart erkämpfen müssen. Er ist aber ein Beispiel dafür, dass Ehrgeiz, Originalität und überragende Intelligenz im 18. Jahrhundert auch massiv Unterprivilegierten erstaunliche Karrieren zu eröffnen vermochten. Immerhin konnte er Lateinschule und Gymnasium in Stendal und Berlin besuchen - in welcher Zeit er sich des Lateinischen und Altgriechischen bis zur Perfektion bemächtigte. Auf dem Weg zu seinem fanatisch verfolgten Lebensziel - Rom - war er sich auch für Kompromisse nicht zu schade: Auf Anraten des ihm wohlgesonnenen päpstlichen Nuntius in Dresden vollzog er die Konversion zum Katholizismus - sie erst eröffnete ihm den Zugang in sein Gelobtes Land, in das er 1755 übersiedelte, um dort im wesentlichen bis ans Lebensende zu bleiben. Reisen von Rom nach Neapel und Pompeji ermöglichten ihm, Material für seine Schriften zu sammeln. 1763 erhielt er die seinen Interessen gemäße Stellung: Papst Clemens XIII. machte ihn zum Aufseher über seine Antikensammlung (dies eine Position, die vor ihm unter anderem Raffael innegehabt hatte). 1764 wurde er zum auswärtigen Mitglied der Göttinger Akademie der Wissenschaften ernannt - Zeichen dafür, dass sich sein Ruhm längst auch in der Heimat verbreitet hatte.

Diesen Ruhm verdankte Winckelmann zwei Schriften, mit denen er in der Tat ein neues Kapitel in der Geschichte der Kunstbetrachtung und -bewertung aufschlug: "Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst" (1754/55) und "Geschichte der Kunst des Altertums" (1764). Winckelmanns Kunstanalysen zeichnen sich durch eine bislang unbekannte Genauigkeit, Prägnanz und eine durch Begeisterung vermittelte Eindringlichkeit aus, die nicht begrifflos bleibt, sondern im Einzelnen immer ein Allgemeines zu fassen sucht: "So wie die Tiefe des Meeres", heißt es in seiner Beschreibung der Laokoon-Gruppe, "alle Zeit ruhig bleibt, die Oberfläche mag noch so wüten, ebenso zeigt der Ausdruck in den Figuren der Griechen bei allen Leidenschaften eine große und gesetzte Seele." Klarheit und Maß, Einheit in der Mannigfaltigkeit, Formbändigung der Affekte - hier werden Prinzipien der Kunstproduktion formuliert, die die Ästhetik des Klassizismus begründeten und Glucks Reformopern genauso wie Goethes frühklassische Dramen konditionierten. Und wie keiner vor ihm stellt Winckelmann "seine" Kunstwerke in einen historisch-geografischen Kontext: Ihre Produktion war nur möglich unter einem milden griechischen Himmel und unter den Bedingungen der Freiheit, die die attische Demokratie gewährte.

Die Grenzen von Winckelmanns Antiken-Verehrung sind freilich nicht zu übersehen. Ironisch mutet an, dass die Kunstwerke, auf die er sich bezog - etwa der Apollo von Belvedere und die Laokoon-Gruppe - gerade keine griechischen waren, sondern römisch-klassizistische Kopien. Vor allem aber: Die von ihm postulierte absolute Vorbildhaftigkeit der griechischen Plastik im Sinne eines über die Bildende Kunst weit hinausgehenden artistischen Ideals musste der jeweiligen Gegenwart und ihrer schöpferischen Potenz alle Luft zum Atmen nehmen - es blieb dann nur noch sklavische Nachahmung. Und das auch noch unter "ungriechischen" Umständen.

Weil Goethe und Schiller dies deutlich sahen, wurde ihre Distanzierung von Winckelmann unausweichlich. In der "Querelle des anciens et des modernes", einem Schlüsseldiskurs des 18. Jahrhunderts, schlugen sie sich im eigenen Interesse auf die Seite der "Modernen". Winckelmann war damit aber nicht "tot". Noch Hegel machte in seiner "Ästhetik" eine tiefe Verbeugung: "Winckelmann ist als einer der Menschen anzusehen, welche im Felde der Kunst ein neues Organ und ganz neue Betrachtungsweisen zu erschließen wussten."

Zur Person

Johann Joachim Winkelmann wird am 9. Dezember 1717 in Stendal geboren. 1738 bis 1740 Theologiestudium in Halle, anschließend Hauslehrer, Konrektor und Bibliothekar

1755 Übersiedlung nach Rom; 1763 Oberaufseher aller Altertümer in und um Rom

Frühjahr 1768: Beginn einer lang geplanten Deutschlandreise; über Wien Rückkehr nach Italien; am 8. Juni 1768 Tod durch Raubmord in Triest