Der GetriebeneGünter Wallraff wird 75 Jahre alt
Köln – Salman Rushdie sei ein sehr guter Spieler, sagt Günter Wallraff mit Anerkennung in der Stimme.
Wer den Respekt des Ehrenfelder Undercover-Reporters („Ich bin Ehrenfelder, nicht Kölner“) gewinnen will, kommt um den Gang an die Tischtennis-Platte nicht herum. Wallraff liebt diesen Sport und jeder, der ihn in seinem Haus in Ehrenfeld besucht, muss mindestens mal eine Einschätzung seiner Spielfertigkeit abgeben oder am besten gleich zum Schläger greifen – egal ob weltberühmter Schriftsteller oder „Bild“-Chefredakteur.
Wallraff – ein Getriebener
75 Jahre alt wird Wallraff am heutigen Sonntag. Doch mit Begriffen wie Ruhestand kann er nichts anfangen. „Alt ist man erst, wenn man sich im Kopf zur Ruhe setzt“, sagt er im Gespräch mit dieser Zeitung. Wallraff ist rastlos, ruhelos, ein Getriebener. Er achtet penibel auf seine Gesundheit, ist schlank, fast drahtig. Er trinkt täglich einen Schluck Olivenöl, pur, diesen ganzen Salatkram drum herum brauche es nicht. Das kostet ja auch nur Zeit. Zeit hat er aber nicht.
Denn Wallraff ist ein Weltverbesserer mit großem Sendungsbewusstsein. Ihn treibt der Wille an, Veränderungen anzustoßen. Jeden Tag melden sich Menschen bei ihm, die ihn und seine Stiftung „Work Watch“ um Hilfe bitten. In dem Porträt „Wallraff war hier“, das RTL anlässlich seines Geburtstags am 9. Oktober um 22.15 Uhr senden wird, versucht er, eine Frau und deren Kind aus Jordanien herauszuholen, die dort von ihrem Ex festgehalten werden.
Ich muss die Zeit, die mir noch bleibt, nutzen.
„Ich versuche es mal bei Gabriel oder sonst bei von der Leyen“, überlegt er, und man merkt ihm an, dass es ihm gefällt, auch die Mächtigen ganz selbstverständlich ansprechen zu können. Er hat ein Talent, sich und seine Aktionen zu inszenieren. Am Ende gibt ihm der Erfolg aber recht, die beiden kommen zurück nach Deutschland. „Ich kann Arbeit und Freizeit nicht trennen, das konnte ich noch nie. Früher konnte ich mir mehr Auszeiten nehmen, jetzt habe ich ständig das Gefühl: Ich muss die Zeit, die mir noch bleibt, nutzen.
Daher bin ich manchmal atemlos und wahrscheinlich ruheloser als früher“, sagt er. Er will helfen – damit es anderen besser geht, aber wohl auch, weil er selbst es braucht, gebraucht zu werden. Dass er einmal so bekannt sein würde, dass allein sein Name zum Türöffner werden kann, danach sah es zu Beginn seiner beruflichen Laufbahn nicht aus. In Burscheid im Bergischen Land wurde er am 1. Oktober 1942 geboren. Der Vater war Ford-Arbeiter, erkrankte früh, starb, als der Sohn 16 Jahre alt war. Wallraff ging von der Schule ab und machte eine Buchhändlerlehre.
In Schweden gibt es ein nach ihm benanntes Verb
Sein Erweckungserlebnis für die spätere Arbeit war seine Zeit bei der Bundeswehr. Er hatte den Antrag auf Kriegsdienstverweigerung zu spät gestellt, wurde gegen seinen Willen eingezogen. Da er sich weigerte, eine Waffe anzufassen, kam er in Konflikt mit seinen Vorgesetzten, landete gar in der geschlossenen Psychiatrie. In seinem Entlassungsbericht wurde ihm eine „abnorme Persönlichkeit“ attestiert, er sei „untauglich für Krieg und Frieden“. Seine Erlebnisse sammelte er in Tagebüchern, die er später teilweise veröffentlichte.
Wallraff erkannte, dass er große Aufmerksamkeit erlangen konnte, wenn er nicht nur über Missstände berichtete, sondern sie am eigenen Leib erfuhr. Er arbeitete in diversen Großbetrieben, unter anderem im Stahlwerk von Thyssen. Seine Industriereportagen machten ihn so bekannt, dass er irgendwann nicht mehr unter seinem echten Namen recherchieren konnte. Ein in Deutschland damals unbekanntes Recherchekonzept war geboren, das ihn so berühmt machen sollte, dass es heute im Schwedischen sogar ein nach ihm benanntes Verb („wallraffa“) gibt. Wallraff selbst sagt, er sei Reporter im klassischen Wortsinn, als Journalist bezeichnet er sich nicht gern.
Als Türke schuftete er auf Baustellen, bei McDonalds und bei Thyssen
Wallraff schleuste sich als Bote beim Kölner Versicherungskonzern Gerling ein, wo er sich im Büro des Patriarchen Hans Gerling mit fast kindlicher Freude auf dem Schreibtisch wälzte. Doch abseits solcher auch ein wenig spaßiger Aktionen ging er auch große Risiken ein. 1974 verteilte er in Athen Flugblätter gegen die griechische Militärdiktatur. Er wollte inhaftiert werden und das Schicksal der politischen Gefangenen teilen. Der Plan ging auf: Er wurde zusammengeschlagen und zu 14 Monaten Gefängnis verurteilt. „Ich war immer bereit, unter Umständen mein Leben zu riskieren“, sagt er im Rückblick. Letztlich sei er aus solchen Situationen stets gestärkt hervorgegangen.
1977 schleuste sich Wallraff als Hans Esser bei der „Bild“-Zeitung in Hannover ein und deckte die fragwürdigen Praktiken des Boulevardblatts auf. Noch mehr Aufmerksamkeit brachte ihm sein Bericht über das Leben ausländischer Gastarbeiter in Deutschland ein. Als Türke Ali schuftete er unter anderem auf Baustellen, bei McDonald’s und Thyssen. „Ganz unten“ erschien 1985 und wurde ein gigantischer Erfolg, verkaufte sich mehr als fünf Millionen Mal in Deutschland und erschien in 38 Übersetzungen.
Er musste sich lange gegen Gerüchte wehren, für die Stasi gespitzelt zu haben.
Bei allen Abgründen, in die er in seinem Leben geblickt hat, ist ihm eins dennoch wichtig: „Ich sehe in Menschen keine Feinde.“ Doch viele sahen und sehen in ihm den Feind. „Mein Leben lang saß ich auf der Anklagebank. Fühlte mich wie ein Aussatz, wie ein Fußabtreter“, erinnert er sich. Irgendwer klagte eigentlich immer gegen ihn, daran hat sich bis heute nichts geändert. Ehemalige Wegbegleiter warfen ihm vor, seine Bücher nicht selbst geschrieben zu haben. Er musste sich lange gegen Gerüchte wehren, für die Stasi gespitzelt zu haben.
In den vergangenen Jahren sorgte Wallraff mit Reportagen für den Privatsender RTL für Schlagzeilen. Ob mieses Schulessen oder Missstände in Pflegeheimen und bei Burger King – sein „Team Wallraff“ brachte schon manches Unternehmen ins Straucheln. Auch er selbst ist noch im Einsatz, so lenkte er etwa den Blick der Öffentlichkeit auf die extrem schwierigen Bedingungen, unter denen Paketzusteller arbeiten.
Formate wie „Schwiegertochter gesucht“ stören ihn
Als er sich für den Film „Schwarz auf weiß“ mit Hilfe von Maskenbildern in einen Schwarzen verwandeln ließ, um Alltagsrassismus in Deutschland aufzudecken, brachte ihm das auch Kritik ein. Als angemalter Weißer könne er die wahren Probleme nicht nachvollziehen. Wallraff ist es jedoch wichtig zu betonen, dass ihm noch nie ein Betroffener vorgeworfen habe: „Du hast mich getäuscht.“
Dass er nun das Aushängeschild von RTL, einem oft auf Krawall gebürsteten Privatsender geworden ist, bereitet ihm keine Kopfschmerzen. Hier erreiche er noch die junge Zielgruppe, die er ansprechen wolle. Formate wie „Schwiegertochter gesucht“ , die ihre Protagonisten teilweise vorführen, stören ihn dennoch. „Das geht auch anders. Da muss ein Ruck durch den Sender gehen.“
„Ich genieße es, allein zu sein.“
Seinen 50. Geburtstag hat Wallraff 1992 mit den Opfern des Brandanschlags von Rostock-Lichtenhagen verbracht, zum 60. flog er nach Afghanistan, um eine Mädchenschule zu stiften. Auch seinen 75. Geburtstag wird der Vater von fünf Töchtern im Ausland verbringen – ohne großes Fest. Partys hasst er, im Mittelpunkt stehen sowieso. „Ich genieße es, allein zu sein.“