Die Märchen von Hans Christian Andersen sind gerade zur Weihnachtszeit von ungebrochener Popularität - auch wenn sie einen nicht immer mit einem Happy End entlassen.
Hans Christian Andersen heuteWarum uns Märchen an Weihnachten besonders faszinieren
Das Mädchen ist verzweifelt. Barfuß, ohne warme Kleidung irrt es durch die Straßen. Ihr Vater hat die Kleine losgeschickt, um Schwefelhölzer zu verkaufen, doch niemand beachtet sie. Nach Hause kann sie nicht gehen, da erwarten sie Schläge, Kälte und Hunger. Ein Hölzchen will sie anzünden, nur eines, um sich ein wenig zu wärmen. Doch im Schein der Flamme sieht sie plötzlich alles, was sie sich immer gewünscht hat. Eine warme Stube, einen festlich gedeckten Tisch, einen herrlich geschmückten Christbaum, und sogar die geliebte Großmutter, die schon tot ist, ist bei ihr und nimmt sie in die Arme. „Aber im Winkel am Hause saß in der kalten Morgenstunde das kleine Mädchen mit roten Wangen, mit lächelndem Munde - tot, erfroren am letzten Abend des alten Jahres“, heißt es in Hans Christian Andersens Märchen „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“.
Märchen im rbb: Das Mädchen mit den Schwefelhölzern | ARD Mediathek
Ein Kind, das erfriert, während um es herum die Menschen feiern und fröhlich sind. Andersen mutet seinen Lesern einiges zu. Schicksale, aus Not und Elend geboren, sind ein Hauptmotiv vieler Märchen - von Hänsel und Gretel bis zu Ali Baba aus „Tausendundeine Nacht“. Und wem es materiell an nichts fehlt, der leidet, wie Schneewittchen, seelische Qualen.
Andersen entlässt seine Leser anders als die Gebrüder Grimm
Doch während bei den Brüdern Grimm die Geschichten stets so angelegt sind, dass die Not überwinden wird und sich die Pforte zum Glück öffnet, entlässt Andersen - von wenigen Ausnahmen wie „Das hässliche kleine Entlein“ abgesehen - seine Leser nicht mit einem immerwährenden Glückszustand. Dabei rückt er das Streben nach Glück ebenso in den Mittelpunkt, wie dies andere Märchendichter tun. Doch anders als etwa in den Märchen der Grimms, in denen sich die Wünsche und Erfahrungen vieler Generationen versammeln, sind in Andersens Geschichten die Parallelen zu seinem eigenen Leben stets überdeutlich.
Der heute berühmteste Däne wird in ärmliche Verhältnisse geboren. Sein Vater ist ein mittelloser Schuhmacher, seine Mutter Wäscherin, sie stirbt später im Armenhaus, die Tante betreibt ein Bordell. Andersen sehnt sich nach einem anderen Leben. Er will Karriere am Theater machen, will Schauspieler oder Tänzer werden. Doch dafür ist er zu hässlich. Er leidet an zahlreichen, teils eingebildeten Krankheiten und Ticks, ist eitel, verletzlich, neurotisch. Zeitlebens sehnt er sich nach festen Bindungen, doch dazu kommt es nie. Wenn er liebt - ob Mann oder Frau -, wird diese Liebe nicht erwidert. Was bleibt, ist die Flucht in die Fantasie.
Märchen beschreiben das, was dem Autor selbst fehlte
„Wenn deine Novellen dich berühmt machen, so werden dich deine Märchen unsterblich machen“, sagt ihm ein Freund einmal. Er soll recht behalten. 156 Texte hat Andersen in seinem Leben geschrieben, Schauspiele, Gedichte, Reiseberichte, Romane. Doch es sind seine Märchen, die in 123 Sprachen übersetzt wurden, die ihn zu Dänemarks Nationalschriftsteller machen. Wenngleich die Dänen Kierkegaard bewundern, so lieben sie doch diesen kränklichen, wenig ansehnlichen Mann aus Odense.
Andersen schreibt in seinen Märchen über das, was ihm selbst fehlt. Er träumt von Geborgenheit und Anerkennung, von Schönheit und Liebe. Doch das Glück, das seine Figuren erreichen, ist immer flüchtig. Nur im Traum werden Wünsche erfüllt. Das „Mädchen mit den Schwefelhölzern“ ist dafür ein gutes Beispiel. Illusion und Realität liegen dicht beieinander, immer droht der Absturz in die harte Wirklichkeit, die Vertreibung aus dem Paradies. Und wann könnte diese schmerzhafter sein als zur Weihnachtszeit? Das Fest, an dem wir das Glück zum Bleiben beschwören möchten. An dem wir darauf hoffen, in Harmonie mit unseren Liebsten zu leben.
Viele der Märchen spielen um Weihnachten herum
Es ist sicherlich kein Zufall, dass viele von Andersens Märchen rund um Weihnachten spielen oder zumindest - wie „Die Eiskönigin“, die jetzt im Kino zu sehen ist - in der Winterzeit. Die Geschichte vom Tannenbaum, der nach einer einzigen Nacht, in der er geschmückt in einer großen Stube steht, weggeworfen, zerhackt und verbrannt wird, ist vielleicht das eindrücklichste Bild für die Vergänglichkeit dieser Tage. Erst dann erkennt er, dass er früher im Wald, aus dem er sich immer weggesehnt hatte, glücklich war. Auch der „Schneemann“, der noch so viele Fragen hat, muss durch die Sonnenstrahlen sterben. „Er sagte nichts, er klagte nicht, und das ist das richtige Zeichen“, heißt es fast lapidar in der Geschichte.
Doch warum faszinieren diese Märchen uns dann so sehr? Warum laufen ihre Verfilmungen immer wieder in Kino und Fernsehen? Warum berühren sie unser Herz, wenn wir nicht auf ein Happy End hoffen dürfen? Vielleicht gerade deshalb. Andersen zeigt, dass Glück immer flüchtig ist und dass wir lernen müssen, die guten und schönen Momente zu würdigen. Vielleicht will er uns helfen, uns auf den Weg zu machen. Denn wenn das Glück im Traum entstehen kann, vielleicht können wir es ja eines Tages aus diesem Traum in die Wirklichkeit retten.
Für Andersen selbst erfüllten sich viele Hoffnungen nicht - und doch starb er als angesehener und erfolgreicher Mann. Oder wie er es selbst in seiner Autobiografie sagt: „Mein Leben ist ein hübsches Märchen, so reich und glücklich.“
Zur Person H. C. Andersen
Hans Christian Andersen, geboren 1805 in Odense, gestorben 1875 in Kopenhagen, ist der bekannteste dänische Dichter. Berühmt wurde er durch seine mehr als 160, in acht Bänden publizierten Märchen.