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Rückblick nach 20 JahrenErst verschmäht, dann geliebt – Der Weg der Potter-Bücher

Lesezeit 7 Minuten
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Auch nach Jahren werden die Bücher von J.K. Rowling von Fans regelrecht verschlungen.

Köln – Die Entstehungsgeschichte des wohl größten Bucherfolgs aller Zeiten ist schnell erzählt. Arme alleinerziehende Mutter sitzt Tag für Tag im Edinburgher Café „Elephant House“, nippt stundenlang an einer Tasse Tee oder Kaffee und hält in einem Schreibblock fest, was ihr seit Monaten im Kopf herumspuckt: Die Geschichte von Zauberlehrling Harry Potter.

Genau so sei es gewesen, bestätigt Joanne K. Rowling Jahre später in einem Interview mit dem „Spiegel“. Besser: Fast so ist es gewesen. „In den Details wird gern übertrieben. Aber es ging mir damals wirklich nicht gut. Ich hatte meinen Job als Lehrerin verloren, meine Ehe war in die Brüche gegangen. Ich war einsam und litt unter Depressionen.“ Der erste Harry-Potter-Roman habe ihr buchstäblich das Leben gerettet. Nicht nur das. Die schottische Autorin landet mit der Fantasy-Serie einen Coup, der sie innerhalb weniger Jahre zur reichsten Frau Großbritanniens macht.

Ein riesen Glücksgriff für alle

Weltweit 500 Millionen verkaufte Bücher. Übersetzungen in 80 Sprachen. Das hat vor Potter noch keine Jugendbuchserie geschafft. In Deutschland sichert sich der Carlsen Verlag frühzeitig die Rechte an der Reihe, ein Glücksgriff, der ihm bis heute eine Gesamtauflage von mehr als 34 Millionen Exemplare beschert hat. Am 28. Juli 1998 erschien der erste Band in deutscher Übersetzung: „Harry Potter und der Stein der Weisen“. Grund genug, sich zum Jahrestag mit der Geschichte dieses literarischen Ausnahmeerfolgs zu beschäftigen.

Sieben Bände umfasst die Potter-Saga, die eine vergleichsweise schlichte Story von Gut und Böse, von richtig und falsch erzählt: Ungeliebter Waisenjunge erfährt an seinem elften Geburtstag, dass er der Sohn eines berühmten Zauberehepaares ist. Er wird auf die Zauberschule Hogwarts geschickt und mutiert vom Durchschnittsschüler zum Retter des von dunklen Mächten bedrohten Zauberreichs. Ende gut, alles gut. Das Böse ist besiegt, der inzwischen fast erwachsene Held geht geläutert aus seinen Abenteuern hervor.

Tweets gegen Donald Trump

Verortet ist die Geschichte in einem magischen Zauberreich, dem die Welt der ahnungslosen Muggels, der Menschen gegenübersteht. Trotz des fantastischen Szenarios vermittelt Rowling in ihren Büchern ein durch und durch konservatives Weltbild und ein Wertesystem, das auch im Reich der Muggels als moralische Richtschnur taugt: Steht ein für das, was ihr für richtig haltet, und wehrt euch gegen die Machtgier von Despoten und ihrer Gefolgschaft. Eine Einstellung, die durchaus zu den kämpferischen Anti-Trump-Tweets passt, mit denen Rowling gegen den amtierenden US-Präsidenten schießt.

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Autorin J.K. Rowling

Dass die Botschaft angekommen ist, zeigte sich jüngst bei den „March for our Lives“-Demonstrationen gegen die US-Waffenlobby. „Wenn Hogwarts-Schüler die Todesser besiegen können, besiegen die amerikanischen Schüler auch die NRA.“ Und: „Wir sind mit Harry Potter aufgewachsen – natürlich leisten wir Widerstand“, hieß es auf den Plakaten der jungen Demonstranten.

Die Entstehungsgeschichte der Bücher mutet an wie ein modernes Märchen. Rowling hat sie oft erzählt in den vergangenen 21 Jahren. In einem Zug auf dem Weg von London nach Manchester sei ihr Harry „in den Sinn“ gekommen. „Der Zug blieb stecken, und Harry hatte sehr viel Zeit, in meinem Kopf Gestalt anzunehmen.“

In der Silvesternacht 1990, der Nacht, in der ihre Mutter an Multipler Sklerose starb, habe sie die ersten Seiten geschrieben, sagt die sonst eher zurückhaltende Autorin 2006 in einem Interview mit dem englischen Magazin „Tatler“. Im Zentrum ihrer Bücher stehe daher die Beschäftigung mit „der Ungeheuerlichkeit“ des Todes. Sie habe auf diese Weise versucht, den Verlust ihrer Mutter zu begreifen und zu verarbeiten.

Mehrere englische Verlage lehnen das Manuskript der unbekannten Autorin ab, als Rowling vor den Verlagstüren antichambriert. Zu abgedreht, zu verquast – so oder ähnlich mögen die Urteile über den fantastischen Stoff gelautet haben. Schließlich erbarmt sich der Bloomsbury-Verlag der ungewöhnlichen Geschichte, überweist der Autorin 2500 Pfund und druckt 500 Exemplare. Am 26. Juni 1997 kommt das Buch auf den Markt: Harry Potter, der berühmteste Zauberlehrling aller Zeiten, tritt seinen Siegeszug durch die Kinder- und Jugendzimmer dieser Welt an.

Einziger Wermutstropfen für Joanne K. Rowling: Auf dem Cover steht nicht ihr voller Name, sondern ein geschlechtsneutrales „J. K. Rowling“. Und daran soll sich bis zum Erscheinen des siebten und letzten Bandes zehn Jahre später nichts ändern.

Erste Plätze auf der Bestsellerliste

Bald reißen sich nicht nur Kinder, sondern auch Erwachsene um die Potter-Bücher, die zunächst im Jahres-, später im Zweijahresabstand erscheinen. Englische Zeitungen wie „The Mail on Sunday“ und „The Sunday Times“ vergleichen die ersten beiden Bände mit den Werken von Roald Dahl und C.S. Lewis. Stephen King sieht gar Parallelen zu Kinderbuchklassikern wie „Alice im Wunderland“.

Im Juni 2000 – die weltweiten Verkaufszahlen sind auf mehr als 35 Millionen Exemplare geklettert – belegen die bislang erschienenen Bände die ersten drei Plätze auf der Bestsellerliste der „New York Times“. Und auch in Deutschland landen die drei Fantasy-Schmöker ganz vorn auf der Liste der Top Ten. Ein Jugendbuch auf Platz eins? Das hat es noch nie gegeben.

„Harry Potter hat unserem Verlag einen Riesenschub gegeben“, sagt Renate Herre, seit 2012 Chefin des Carlsen Verlags. Nicht nur das. Die gesamte Branche profitiere bis heute von dem Hype um Potter. „Vorher wurde das Kinder- und Jugendbuch immer ein bisschen belächelt und als zweitklassig abgetan. Das hat sich geändert, als plötzlich eine Kinderbuchserie Platz eins bis drei auf den Bestsellerlisten eroberte.“ Wofür Carlsen dem Zauberlehrling im Jubiläumsjahr 2018 mit einer prachtvoll illustrierten Neuauflage dankt.

Meinung über Buch gingen auseinander

Die Autorin selber reagiert eher verschreckt auf den plötzlichen Ruhm. „Ich komme mir vor wie ein Spice Girl“, sagt sie einmal in einem Interview. Lesungen mit ihr geraten zu Pop-Spektakeln. Erscheint ein neuer Band, harren auf der ganzen Welt zigtausende Fans in Harry-Potter-Kostümen vor den Buchhandlungen aus, um Punkt Mitternacht eines der ersten Exemplare zu ergattern.

Vielleicht sei es ja diese Mischung aus Normalität und Magie, mit der sich viele Menschen identifizieren könnten, versucht Rowling die magische Wirkung ihrer Bücher zu erklären. „Wohl jeder von uns würde gern einmal die Erfahrung machen, dass mehr in ihm steckt, als er ahnt.“

Auch andere suchen nach Erklärungen für das Phänomen Potter, das die Literaturwelt weltweit polarisiert. „Eine schwule Allegorie“, watscht der US-Literaturwissenschaftler Michael Bronski die Bücher ab. „Sie erzählen Kindern, dass Normalsein uninteressant, fantasielos und dumm ist.“ Nicht lesen, so seine Empfehlung.

Ganz anders Kollege Daniel Nexon von der Georgetown University in Washington. In seinem Buch „Harry Potter and the Intenational Relations“ legt er dar, dass die Muggels von den Zauberern durchaus einiges über Politik und internationale Beziehungen lernen können.

Selbst der deutsche „Literaturpapst“ Marcel Reich-Ranicki schaltet sich in die Debatte ein. Zwar habe er keinen der Romane gelesen, gibt er unumwunden zu. Doch sei es besser, „die Leute lesen einen Harry Potter als überhaupt nichts“. Auf diese Weise könnten sie sich „wenigsten üben in der Kunst, Buchstaben zu lesen, und wenden sich danach vielleicht anspruchsvolleren Werken zu“.

Ratzinger bezeichnet Buch als „Teufelswerk“

In kirchlichen Kreisen wird ebenfalls heftig über Potter diskutiert. „Teufelswerk“, wettert Kardinal Joseph Ratzinger, der spätere Papst Benedikt XVI. Die Bücher seien eine „subtile Verführung“ und zersetzten „das Christentum in der Seele, ehe es überhaupt wachsen konnte“. Im baden-württembergischen Münsingen-Rietheim wird Rowling im November 2000 sogar aus der Bücherei der evangelischen Gemeinde verbannt. Zwei Mitglieder des Kirchengemeinderats hatten die Verherrlichung von „okkulten Praktiken“ in ihren Romanen beanstandet.

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Der Popularität von Harry Potter tut all das keinen Abbruch. Zwar wurde ein achter Band („Harry Potter und das verwunschene Kind“), basierend auf einem Theaterstück von Rowling, kein Verkaufsschlager. Der Run auf die ersten sieben Bücher hingegen sei ungebrochen, sagt Sabina Blasco Kepura, die in der Kölner Stadtbibliothek arbeitet und selber seit ihrem 14. Lebensjahr bekennender Potter-Fan ist. „Die Kinder sind genauso begeistert von den Geschichten wie wir früher, und meistens sind alle Bände ausgeliehen.“ Am Kölner Humboldt-Gymnasium gibt es sogar jedes Jahr einen Harry-Potter-Tag mit einem Quidditch-Turnier und Unterricht im Mischen von Zaubertränken.

Zauberei? Nein, schlicht und einfach gute Jugendbuchliteratur, die das Zeug dazu hat, viele Generationen junger Leserinnen und Leser durch ihre Kindheit und Jugend zu begleiten.