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Herfried Münklers neues BuchScheitert das freie Europa?

Lesezeit 4 Minuten
Werbung für eine Kryptobörse in Hongkong mit Donald Trump. Die Politik der USA wendet sich zunehmend dem Indopazifik zu, auch das hat Auswirkungen auf Europa

Werbung für eine Kryptobörse in Hongkong mit Donald Trump. Die Politik der USA wendet sich zunehmend dem Indopazifik zu, auch das hat Auswirkungen auf Europa.

Der Politikwissenschaftler analysiert die neuen Machtverhältnisse weltweit und die Herausforderungen, vor denen Deutschland im 21. Jahrhundert steht.

Wenn von Olaf Scholz und der gescheiterten Ampelkoalition etwas im Gedächtnis bleiben wird, ist es möglicherweise das Wort von der Zeitenwende. Denn spätestens der Überfall Russlands auf die Ukraine hat deutlich gemacht, dass wir einen weltpolitischen Umbruch erleben. Dass wir daraus tiefgreifende Konsequenzen ziehen müssen, dämmert vielen erst nach dem Wahlsieg Donald Trumps, der mit unvorstellbarem Furor die regelbasierte Weltordnung zu zerlegen beginnt. Was heißt das für den Westen, für Europa, für Deutschland? Die bisherige Vor- und Schutzmacht USA zieht sich aus Europa zurück und in Moskau will ein aggressiv revisionistischer Kreml-Herrscher mit imperialistischen Plänen die europäische Landkarte verändern. Wilde Zeiten.

Diese Unübersichtlichkeit nimmt sich Herfried Münkler in „Macht im Umbruch“ vor. Wie kaum ein anderer Wissenschaftler hat sich der Politologe seit Jahrzehnten mit Machtfragen beschäftigt, seine Bücher gelten als Standardwerke und wurden Bestseller. Münkler analysiert kühl die Ausgangslage, sein Fokus ist dabei Deutschland und Europa, die im neuen Kampf der Weltmächte zwar frei und wohlhabend, allerdings ohne die Sicherheitsgarantien der USA machtpolitisch weitgehend schutzlos sind – vor allem, wenn Trump den angedrohten Abzug amerikanischer Truppen wahr macht und sein NATO-Engagement reduziert oder ganz aufgibt. Trumps Amerika handelt, so Münkler, nicht mehr auf der Grundlage von Werten und Regeln, es handelt machtbasiert. Nicht die Einhaltung von Regeln ist entscheidend, sondern der Einsatz von Macht, von militärischer und ökonomischer.

Das Ende des auf Werten beruhenden transatlantischen Westens

Darauf ist Europa von allen Großen des Weltgeschehens am wenigsten vorbereitet. Zu lange hat man hier nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion an eine Welt geglaubt, wo es ökonomischen Wettbewerb, aber keine militärische Auseinandersetzung mehr gibt, zumindest nicht in Europa. Das spiegelt sich im Abbau von Verteidigungspotentialen, die scheinbar nicht mehr benötigt wurden. Doch statt Geoökonomie gelten jetzt wieder die Gesetze der Geopolitik. Im Wettbewerb der Werte sind die liberalen Demokratien unter Druck, autoritäre Regime wie Russland und China sind in der Offensive und die Vereinigten Staaten fallen als Hüter einer freiheitlichen Weltordnung aus.

Das bedeutet auch das – zumindest vorläufige – Ende des auf Werten beruhenden transatlantischen Westens, zumal die USA sich zunehmend dem für sie interessanteren Indopazifik zuwenden und China als ihre größte Herausforderung ansehen. Auch deshalb sieht Münkler die Gefahr, dass sich Trump und Putin auf Kosten der Europäer (allen voran der Ukrainer) verständigen: In Moskau sieht Washington einen möglichen Verbündeten gegen Peking. Damit gehörte aber ein militärisch schwaches Europa zum Einflussbereich eines Russlands, das laut Münklers These ein anti-westliches Eurasien anstrebt, das von Lissabon bis Wladiwostok reicht.

Deutschland kommt eine zentrale Rolle zu

Zu den Vorzügen seines Buches gehört es, eine akribische Analyse von Putins Geschichtsrevisionismus zu liefern und gleichzeitig eine enorme geschichtliche Tiefenschärfe als Einordnungshilfe zu bieten. Was muss Europa also tun und welche Rolle spielt Deutschland dabei? Denn die Europäische Gemeinschaft mit ihren 27 Mitgliedsstaaten ist derzeit kaum handlungsfähig. Vor allem das Einstimmigkeitsrecht bei wesentlichen Entscheidungen wird von nationalpopulistischen Quertreibern wie Ungarns Viktor Orbán als Vetorecht gegen die anderen 26 Länder missbraucht. Hier müsse zwingend das Mehrheitsrecht durchgesetzt werden, auch mit Blick auf die EU-Länder, die von Russland und China umworben werden.

Ist das schon anspruchsvoll, geht Münkler in der Außen- und Sicherheitspolitik noch weiter. Er plädiert für eine Wiederbelebung des sogenannten Weimarer Dreiecks als Kraftzentrum einer Führung des Kontinents, also einer Achse Frankreich-Deutschland-Polen, ergänzt um Italien und das militärisch wichtige Großbritannien. Zudem müsse ein gemeinsamer europäischer Oberbefehlshaber für die nationalen Armeen installiert werden. So verhindere der Kontinent, zwischen Russland, USA und China zerrieben zu werden.

Deutschland kommt in diesem Szenario eine zentrale Rolle zu, wegen seiner Lage, seiner Größe und seiner Wirtschaftskraft. Allerdings stellt er der Politik des Landes in den letzten Jahrzehnten kein gutes Zeugnis aus. Es fehle an strategischem Denken, das über eine Legislaturperiode hinausreiche. Erste Aufgabe ist es danach laut Münkler, das Verhältnis zu Frankreich als wichtigstem Partner wiederzubeleben. Auch die ramponierte Beziehung zu Polen müsse dringend repariert werden. Führen ist dabei kein Dominanzstreben Deutschlands, sondern ein an den Interessen der Gemeinschaft und ihren Werten orientiertes Handeln.

Angesichts der gegenwärtigen Anarchie in der Staatenwelt eine Herkulesaufgabe. Das stellt hohe Anforderungen an Mentalität und Tatkraft der deutschen Politik. Sollte sie, schreibt Münkler, an dieser übertragenen Verantwortung scheitern, scheitere das freie Europa. Ob das gelingt? Herfried Münkler lässt es offen.


Herfried Münkler: „Macht im Umbruch – Deutschlands Rolle in Europa und die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts“, Rowohlt Berlin, 431 Seiten, 30 Euro.