Der Düsseldorfer Wissenschaftler Christoph Nonn sieht bedenkliche Parallelen zwischen der Endphase der Weimarer Republik und unserer gegenwärtigen Situation.
Historiker über unsere bedrohte Demokratie„Wir bewegen uns rasant auf Weimarer Verhältnisse zu“
Herr Nonn, in Kürze erscheint im Greven-Verlag Ihr Band zur Geschichte Kölns in der Weimarer Republik. Können Sie in den aktuellen Debatten über das Erstarken rechtsextremer Kräfte den Verweis auf „Weimar“ überhaupt noch hören?
Besser als noch vor zehn Jahren. Damals gab es Veröffentlichungen, die für einen Vergleich zwischen Weimar und der Bundesrepublik allenfalls noch ein akademisches Interesse vermuteten. Politisch lohne sich das nicht. Dafür sei unsere parlamentarische Demokratie viel zu stabil. Inzwischen müssen wir feststellen: Das war eine Illusion. Es gibt für nichts eine Ewigkeitsgarantie. Also lohnt sich der Blick auf Weimar. Und die Parallelen sind eindeutig.
Welche Parallelen sehen Sie?
Erstens eine wachsende Zustimmung zu Parteien, die mit der liberalen Demokratie ihre Probleme haben. Zweitens die wachsende Tendenz, die jeweils Regierenden abzustrafen. Es gibt deshalb für die Zukunft einer Partei kaum Schlimmeres, als Regierungsverantwortung zu übernehmen. Damit einher geht drittens eine Neigung der Parteien, sich populistisch auf solche Tendenzen in der Wählerschaft einzustellen und das Blaue vom Himmel zu versprechen. Bei immer mehr im Parlament vertretenen Parteien mit immer schwierigeren Koalitionsbildungen lässt sich das aber in Regierungsverantwortung noch viel weniger einlösen als früher schon. In alledem bewegen wir uns rasant auf „Weimarer Verhältnisse“ zu.
Andere Demokratien leben mit Vielparteiensystemen seit Jahrzehnten – und gar nicht so schlecht.
Aber die Deutschen kommen nicht gut damit zurecht. Sie empfinden den völlig normalen Parteienstreit – auch innerhalb einer Koalition – schon als Vorbote des Untergangs.
Wenn Sie „Weimarer Verhältnisse“ heraufziehen sehen, müsste man dann nicht doch die Unterschiede sehen? Wir leben heute seit bald 80 Jahren im Frieden und mit einer gewachsenen Demokratie.
Das Bemerkenswerte in der Rückschau ist, dass die Weimarer Republik die Krisenzeit nach dem Ersten Weltkrieg schon in der Mitte der 1920er Jahre weitgehend überwunden hatte. Vieles deutete damals ebenfalls auf eine Ära der Stabilität hin. Die Weimarer Republik ist nicht an den Folgen des Ersten Weltkriegs gescheitert, nicht an der Inflation, nicht am Versailler Vertrag. In den Parlamenten entwickelte sich eine demokratische Kultur, der Rechtsextremismus war bis zum Einsetzen der Weltwirtschaftskrise unbedeutend, außenpolitisch versprach die Verständigungspolitik mit Frankreich eine Ära des Friedens. Aber all das zählte seit 1929 nichts mehr. Demokratie ist immer prekär, eine Abwendung der Wähler von ihr immer möglich.
Was ist mit der Abwendung der Eliten von der Republik? Weimar, heißt es gern, sei eine „Demokratie ohne Demokraten“ gewesen.
Das stimmt so nicht. Es gab ein Fremdeln mit der Demokratie, ja. Die Beamtenschaft hat sich aber mit der Republik bald ebenso arrangiert wie das Militär, wo nach dem gescheiterten Kapp-Putsch von 1920 Umsturzfantasien aufgegeben wurden. Eine Ausnahme war die Justiz, in der es immer wieder Skandalurteile in politischen Prozessen gab. Das hat jedoch keine großen Konsequenzen gehabt. Gerade in den Eliten gab es Mitte der 1920er Jahre viele, die hinter der Republik standen.
Nur hielt das nicht sehr lange.
Auch da stellten die Jahre 1929/30 eine Wende dar. Vielen ging im Zuge der Weltwirtschaftskrise der Glaube an die Republik verloren. An der Basis der SPD wurde auch in Köln eine Volksfront mit der KPD gefordert, sogar von dem Kölner Heinz Kühn, später der erste sozialdemokratische Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen. In der Zentrumspartei erwogen selbst Leute wie Konrad Adenauer, der damalige Kölner OB, Koalitionen mit der NSDAP – zum Teil aus Antipathien den Sozialdemokraten gegenüber, zum Teil mit dem taktischen Motiv, Hitlers Partei als regierungsunfähig zu entlarven und zu entzaubern. Damit verkannten sie deren Skrupellosigkeit aber auf fatale Weise.
Wenn Sie an den Umgang mit der AfD heute denken: Ist es sinnvoll, direkte Linien zur NSDAP zu ziehen? Oder ist das eine Dämonisierung, die der politischen Auseinandersetzung eher abträglich ist?
Das Problem ist weniger eine Dämonisierung der AfD als eine rückschauende Dämonisierung der Nationalsozialisten. Es hat sich nach 1945 eingeschlichen, Hitler gleichsam Teufelshörner aufzusetzen und die NSDAP-Leute als eine Horde in schwarzen Mänteln zu sehen, die nachts um drei die Wohnung stürmen. Dabei gab Hitler sich einen betont bürgerlichen Anstrich, Vertreter der NSDAP traten im politischen Betrieb auf wie andere auch. Wohl deshalb können wir uns so schwer vorstellen, dass Leute in Anzügen und mit ständigen Lippenbekenntnissen zu den demokratischen Spielregeln in Wahrheit die Demokratie zerstören wollen.
Seit die AfD im Bundestag und in den Landtagen sitzt, klagen alle demokratischen Kräfte, dass der parlamentarische Diskurs verrohe und die ostentative Verachtung der Demokratie zunehme.
Das war in Weimar ganz genauso. Die demokratische Kultur geht in dem Moment den Bach runter, in dem Parteien in die Parlamente kommen, die sich an keine Regeln des Respekts und des politischen Anstands halten. Für die anderen Parteien ist es übrigens auf die Dauer unglaublich schwierig, sich davon abzugrenzen und nicht mit gleicher Münze zu antworten.
Was folgt nun daraus?
Erstens: Das Einrahmen oder Einbinden einer Partei wie der AfD funktioniert nicht. Man kann verfassungsfeindliche Kräfte nicht „zähmen“, indem man mit ihnen kooperiert oder gar koaliert. Extremisten nutzen so etwas nur aus und profitieren erst recht davon, dass sie sich an keine Regeln gebunden fühlen. Also muss man sie isolieren. Daran führt kein Weg vorbei. Zweitens: Die Demokraten müssen zusammenhalten. In ihrer Art zu debattieren, bei der gegenseitigen Unterstützung in Stichwahlen und auch bei der Koalitionsbildung. Erneut hilft der Blick auf Weimar: Ab 1930 haben die demokratischen Parteien sich zunehmend gegenseitig zerfleischt. Halbgare Konstruktionen wie die Tolerierung von Minderheitsregierungen beschleunigten den Untergang der Republik.
Sie sagten, die Abgrenzung von Extremisten falle den anderen Parteien schwer. Haben die sich nicht längst auf die AfD zubewegt, zum Beispiel in der Flüchtlings- und Migrationspolitik?
Solange es um Inhalte geht, ist es in Ordnung, dass die Parteien ihre Positionen überprüfen – und darüber auch miteinander streiten. Davon lebt die Demokratie. Es kommt aber darauf, wie der Streit geführt wird und wen man für koalitionsfähig erklärt. Solange die demokratischen Parteien einander das gegenseitig zugestehen, kann zu den extremen Rändern hin nichts anbrennen.
Momentan ist das noch so. Aber ob das so bleibt?
Das ist die Frage. Ich finde: Eine Brandmauer ist gar kein so schlechtes Bauwerk. Es gibt Dinge, auf die darf sich eine demokratische Partei keinesfalls einlassen.
Hätten Sie eigentlich gern in Köln gelebt, sagen wir im Jahr 1924?
So etwas dürfen Sie Historiker nie fragen! Wir hätten immer gern in der Epoche gelebt, über die wir forschen. Schon allein um zu wissen, wie sich das Leben der Menschen damals anfühlte – jenseits von Archivalien. Das ist der Unterschied zwischen Trockenschwimmen und dem Sprung ins Wasser. Aber da Sie konkret fragen: Tatsächlich war Köln in den 1920er Jahren bis in die frühen 1930er Jahre ein sehr spannendes Pflaster. Es war eine für die damalige Zeit extrem moderne Großstadt mit einem sehr trendigen Lifestyle. Es gab tolle Kinos, spannende Museen, viel weniger Autoverkehr als heute. Köln war auch architektonisch und städtebaulich eine wunderschöne Stadt, die ich gern erlebt hätte – ohne die tiefen Wunden des Zweiten Weltkriegs und des Wiederaufbaus nach 1945, der Köln in gewisser Weise schlimmer verwüstet hat als die Royal Air Force. Denken Sie bloß an die Nord-Süd-Fahrt und andere Scheußlichkeiten. Als Historiker muss ich aber gleich hinzufügen: Köln in den 1920er Jahren war alles andere als repräsentativ für die Situation in ganz Deutschland.
Inwiefern nicht?
Mit seinem großstädtischen Flair unterschied es sich eklatant von Regionen wie Ostpreußen, Mecklenburg, Hinterpommern, Schleswig-Holstein, Oberbayern – allesamt extrem agrarisch geprägt und alles andere als modern. Konservative dort waren von Gründung der Republik an antidemokratisch und blieben es auch. In Köln dagegen waren sowohl die nationalkonservativen als auch die nationalliberalen Gegner der Demokratie sehr schwach. Stark waren die SPD und das Zentrum. Und das Zentrum wiederum war in Köln noch einmal eine ganz andere Partei als – sagen wir – in Schlesien.
Katholisch war das Zentrum hier wie da.
Ja, aber der politische Katholizismus im Rheinland war schon in Kaisers Zeiten wesentlich offener für die Demokratie und den Parlamentarismus gewesen als der Katholizismus andernorts, nicht nur in Schlesien, sondern auch in Bayern oder – noch sehr viel näher – als in Westfalen.
Man müsste demnach in Abwandlung des geflügelten Wortes „Bonn ist nicht Weimar“ sagen: Köln war nicht Weimar.
Richtig! Und genau das war und ist auch ein Problem. Köln war nicht unbedingt repräsentativ für die Weimarer Republik. Genau so, wie Wahlen in Köln heute ja auch etwas anders ausfallen als im Rest der Berliner Republik.
Zur Person
Christoph Nonn, geb. 1964 in Leverkusen, ist seit 2002 Professor für Neueste Geschichte an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf. 2009 veröffentlichte er im Verlag C.H. Beck eine Geschichte Nordrhein-Westfalens. 2020 erschien von ihm im Verlag Schöningh der Band „Wie Demokratien enden. Von Athens bis zu Putins Russland“.
Im November kommt beim Greven-Verlag Nonns „Geschichte der Stadt Köln in der Weimarer Republik“ als Band 11 der Reihe Geschichte der Stadt Köln von den Anfängen bis heute heraus.
Das Interview mit Professor Christoph Nonn erscheint in gedruckter Form parallel auch in „Irene“, dem Magazin des Greven-Verlags.