Interview mit Adrian McKinty„Die erste Warnung ist ein Knieschuss“
Adrian McKinty hat einmal in seinem Leben ein paar Stunden auf einer Polizeiwache verbracht, also unfreiwillig. Das war in New York an einem Silvesterabend, weil er und ein paar Freunde sich am Times Square geweigert hatten, hinter eine Absperrung zurückzutreten. In Köln ist kein Ungemach zu erwarten – der Autor ist nur Gast im Polizeipräsidium in Kalk, um aus seinem Nordirland-Krimi „Die verlorenen Schwestern“ zu lesen. McKintys Romane spielen in den Jahren zwischen 1981 und 1984, der heißesten Phase der nordirischen „Troubles“, als die IRA mit einem langen Hungerstreik im Maze-Gefängnis und einem Anschlag auf Margaret Thatcher im englischen Seebad Brighton die Schlagzeilen beherrschte. Das schwere Thema bewältigt McKinty mit sarkastischem, schwarzen Humor – kein Wunder, dass er die meisten Filme über den Nordirland-Konflikt „melodramatisch und weinerlich“ findet.
Mr. McKinty, auf die Schlusspointe ihres jüngsten Romans muss man erstmal kommen: Ein katholischer Polizist aus Derry rettet Margaret Thatcher, als die IRA ihr im Herbst 1984 nach dem Leben trachtet und in ihrem Hotel eine Bombe legt.
Mir hat die ironische Wendung dieser Geschichte gefallen: Ein irischer Außenseiter-Cop rettet Frau Thatcher das Leben, macht sich deswegen aber im Nachhinein schwere Vorwürfe und kann mit niemandem darüber reden.
Was ist in jener Nacht in Brighton wirklich passiert? Wie wurde die Polizei gewarnt?
Das werden Sie und ich in diesem Leben nicht mehr erfahren. Alle amtlichen Papiere dazu sind zunächst für 30 Jahre unter Verschluss gewesen. Und vor kurzem wurde die Geheimhaltung auf Antrag der Regierung um weitere 45 Jahre verlängert, bis 2060. Das bekannteste Gerücht um das Thatcher-Attentat besagt, dass der britische Inlandsgeheimdienst MI 5 mindestens einen Informanten ins Army Council der IRA eingeschleust hatte.
Ich war 1992 zum ersten Mal in Belfast. Unvergesslich sind mir die Kontrollen geblieben, bei denen die Polizisten unter meinem Auto nach versteckten Bomben gesucht haben. Das war sechs Jahre vor dem Ende der „Troubles“. Würden Sie heute sagen, der Konflikt ist endgültig ausgestanden?
Oberflächlich betrachtet ja. Das Zentrum von Belfast sieht heute aus wie jede andere britische Großstadt. Bei einem Besuch im vergangenen Jahr habe ich auf den Straßen zum ersten Mal Polizisten auf Streife gesehen, die nur mit Hose, Hemd und Helm bekleidet waren, ohne die sonst obligatorische kugelsichere Weste. Auch die komplett mit Stacheldraht überbauten Polizeistationen, wie ich sie in den Romanen beschreibe, sind abgebaut worden. Aber der Konflikt ist nicht wirklich gelöst, es gibt immer noch starke Spannungen unter der Oberfläche.
„Die Paramilitärs haben Geld und Waffen im Überfluss“
Wie sieht die Zukunft der Provinz aus? Es gibt Hochrechnungen, wonach die Katholiken mittelfristig die Bevölkerungsmehrheit stellen.
Der jüngste Zensus legt das nahe, demnach ist die Mehrheit der Protestanten mit 52:48 Prozent nur noch hauchdünn. Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs war die protestantische Mehrheit noch komfortabel 65:35, in den 80er-Jahren 60:40.
Was passiert Ihrer Meinung nach, wenn die Mehrheit kippt?
Sinn Fein (Anmerkung der Red.: die größte katholische Partei) wird ein Referendum abhalten über den Anschluss des Nordens an die irische Republik – sobald sie eine Chance sehen, diese Abstimmung auch zu gewinnen.
Und dann?
Falls es eine Mehrheit für ein vereintes Irland gibt, und die Briten mitsamt ihrer Soldaten und Polizisten abrücken, werden wir einen bewaffneten Konflikt mit bosnischen oder ukrainischen Ausmaßen erleben. Ich wüsste auch nicht, wer dann eine Friedensmission anführen und Truppen schicken sollte. Die Vereinigten Staaten vielleicht?
Ist dieses Szenario nicht extrem pessimistisch?
Es gibt in Nordirland immer noch etwa 5000 Paramilitärs auf beiden Seiten, die im Moment stillhalten. Seit dem Karfreitagsabkommen, das 1998 ein Ende der sektiererischen Gewalt brachte, haben sie ganz sich auf mafiöse Aktivitäten verlegt, Erpressung und Drogenhandel. 95 Prozent aller Geschäftsinhaber zahlen Schutzgeld an die eine oder andere Seite. Die Paramilitärs haben Geld und Waffen im Überfluss – das ist eine explosive Mischung.
War Ihnen von Anfang an klar, dass Sean Duffy ein katholischer Polizist werden würde?
Ja, denn so Erklärt sich sein Außenseiter-Status und das große Misstrauen, das ihm die Kollegen entgegen bringen. Religion, Klasse und Bildungsgrad sind die drei Bruchlinien in Duffys Biografie im Vergleich zu den meisten RUC-Kollegen, die Protestanten sind, der Arbeiterklasse angehören und keine höhere Ausbildung genossen haben. Das Schöne an der nordirischen Situation ist, dass du diese Bruchlinien nicht sofort erkennst. Es ist nicht so offensichtlich wie bei einem, sagen wir, arabischen Cop in New York City. Bei der RUC arbeiten nur weiße, christliche, englischsprachige Männer, und doch gibt es diesen unsichtbaren Graben zwischen Duffy und den Anderen.
„Die Geschichte wurde in uns hineingehämmert“
Auf welcher Seite stand eigentlich ihre Familie?
Meine Eltern sind liberale Protestanten, sie standen der moderaten Unionisten-Partei UUP nahe. Der Reverend Ian Paisley (Anmerkung der Red.: Chef der radikalen Unionisten-Partei DUP) war meinen Eltern immer viel zu vulgär.
Beide Seiten im Nordirland-Konflikt bemühen die anglo-irische Geschichte und tragen Jahreszahlen wie ein Monstranz vor sich her: Die Protestanten 1690 („Battle of the Boyne“), die Katholiken den Osteraufstand von 1916. Ist der Konflikt auch deshalb so zäh und langlebig – wegen dieser obsessiven Beschäftigung mit der eigenen Geschichte?
Es gibt ein schönes James Joyce-Zitat aus „Porträt des Künstlers als junger Mann“: Geschichte ist ein Albtraum, aus dem ich aufzuwachen versuche. Joyce hat recht, die Geschichte wurde schon in der Grundschule in uns hineingehämmert. Es war dieses Mantra: Erinnere dich – an 1690, an 1916! Wie absurd das ist, fiel mir erst auf, als ich in Oxford studiert habe. Meinen englischen Kommilitonen sagten diese angeblich so wichtigen Jahreszahlen überhaupt nichts.
War das ein konfessionell gefärbter Geschichtsunterricht?
Ja klar. In ersten Klasse in der Victoria Primary School fing es schon damit an, dass wir die Namen sämtlicher britischen Könige von Wilhelm dem Eroberer bis Elizabeth II. auswendig lernen mussten. Über die irische Geschichte haben wir fast nichts erfahren. An den katholischen Grundschulen ist es umgekehrt gelaufen, da fand die britische Geschichte nicht statt.
Sean Duffy denkt immer wieder darüber nach, aus Nordirland wegzugehen, um sich die Gewalt und die Lebensgefahr nicht länger anzutun. Er sagt sinngemäß, dass jeder, der noch bei Verstand sei, das Land verlassen sollte. Kennen Sie dieses Gefühl?
Absolut. Ich kann mich an ein Jahr erinnern, wo in meiner Klasse zu Beginn des Schuljahres 35 Kinder waren, und am Ende weniger als 25. In der Straße, wo ich aufgewachsen bin, gab es regelmäßig Abschiedspartys, bevor Nachbarsfamilien weggegangen sind, manchmal nur nach England und Schottland, oft aber auch nach Kanada oder Südafrika. Von denen ist niemand zurückkommen. Ich kann mich daran erinnern, dass ich meine Mutter einmal gefragt habe: Warum bleiben wir eigentlich noch hier?
Wie viele ehemalige Jugendfreunde leben jetzt auch im Ausland?
Ich habe vor einigen Jahren intensiv nachgeforscht, und das Ergebnis war niederschmetternd. Die Jungs, mit denen ich die Grundschule besucht habe, waren zu gleichen Teilen bei der Polizei, im Gefängnis, ausgewandert oder arbeitslos.
Was ist mir den ehemaligen Mitschülern, die einsitzen? Hat das mit paramilitärischen Aktivitäten zu tun oder mit normaler Kriminalität?
Das lässt sich so sauber nicht trennen, denn es gibt wie gesagt enge Verbindungen der Paramilitärs ins kriminelle Milieu. Wenn du zum Beispiel auf eigene Rechnung Drogen verkaufst in einem von der IRA kontrollierten Viertel, dann lebst du gefährlich. Die erste Warnung ist üblicherweise ein Schuss ins Knie, die zweite Warnung ein Kopfschuss.
Stimmt es eigentlich, dass die Ärzte im Royal Victoria Hospital weltweit führend waren im Zusammenflicken von zerschossenen Kniescheiben?
Ja, das stimmt. Ich war mal dort, nachdem bei einer Schulschlägerei meine Brille zu Bruch gegangen war und ich eine tiefe Schnittwunde im Gesicht hatte. Ein auf Schusswunden spezialisierter plastischer Chirurg hat mich behandelt und die Wunde mit 17 Stichen genäht. Du hast von dieser Naht rein gar nichts gesehen.
Sie hatten dann in den 80er-Jahren aber auch die Nase voll von Nordirland, oder?
Ich wollte raus, aber zunächst nur für das Studium in England. Zum Glück habe ich dort ein Mädchen aus New York getroffen, mich in sie verliebt und bin dann nach dem Studium gemeinsam mit ihr in die USA gegangen.
Wie ging es dann weiter?
Meiner Frau wurde ein Job in Denver angeboten und ich habe dort an einer High School Englisch unterrichtet und zu schreiben begonnen. Ich habe die Schüler oft Kurzgeschichten schreiben lassen. Ihnen ging das auf die Nerven und ich habe sie angespornt: „Jeder hat eine interessante Geschichte zu erzählen!“ Nach ein paar Jahren habe ich diesen Spruch dann für mich in die Tat umgesetzt.
„Du kannst im ewigen Sonnenschein nicht gut schreiben“
Und dann kam Melbourne?
2008 wurde meiner Frau dort ein Job angeboten. Wir hatten in Denver viel Schnee und harte Winter, es schien also eine gute Idee zu sein.
War es nicht?
In Melbourne ist es ist sehr warm und sonnig, und manchmal fällt es mir schwer, dort an meinen düsteren Krimis zu arbeiten. Du kannst im ewigen Sonnenschein nicht gut schreiben.
Was machen Sie dann? Rollladen runter?
Es gibt diese Youtube-Audio-Clips „10 Stunden Regen“, die lasse ich manchmal im Hintergrund laufen. Dann machst du die Vorhänge zu, und denkst, es stürmt und regnet draußen.
Das hilft?
Ja, aber du musst die richtige Datei anklicken, nicht den Tropenregen mit den quakenden Fröschen.
Wie geht es weiter mit Detective Insepctor Sean Duffy?
Ich habe einen vierten Teil geschrieben, der Anfangt 2016 in Deutschland erscheint, Aber danach? Duffy hat so viel Glück gehabt, er hätte eigentlich in jedem der ersten drei Bücher sterben müssen. Ich stelle mir immer die Frage: Wieviel Glück darf ein Romanheld haben, wie oft kann er dem Tod von der Schippe springen?
Was ist die Antwort?
Höchstens noch ein Buch, dann wird Sean Duffy entweder sterben, auswandern oder in Rente gehen.