Interview mit Martin Walser„Ich werde nie mehr solche Schreibfreude haben“
Köln – Martin Walser kommt eine halbe Stunde früher als verabredet in die Gaststätte Iberl. Die liegt fünfzehn Gehminuten entfernt von seinem neuen Wohnsitz in München. Er sei dem Gasthof verbunden, sagt er. Denn die Besitzerin heiße Sibylla Abenteuer – da ist ihm offenbar der Vorname, der auf die antike Seherin zurückgeht, ebenso lieb wie der sprechende Nachname.
Auch sei sie eine Leserin seiner Bücher und plane, einen der Wirtshaus-Räume offiziell in „Martin-Walser-Stube“ umzubenennen. Eine solche Stube gibt es dort bereits für einen hiesigen Maler. Bei der Einweihung, das habe er der Besitzerin allerdings versichert, dürfe sie nicht mit seinem Erscheinen rechnen. Jetzt muss nur noch das Gebäck ausgewählt werden. Walser entscheidet sich für eine Variante, die er noch nicht kennt: Zucchini-Kuchen.
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Herr Walser, was war die Keimzelle für Ihren neuen Roman „Statt etwas oder Der letzte Rank“?
Das hat sich im vergangenen Jahr direkt nach dem Roman „Ein sterbender Mann“ ergeben. Nach einem Buch weiß man ja nie genau, was man tun soll. Und diesmal hat sich der Satz angeboten: „Mir geht es ein bisschen zu gut.“ Das konnte ich dann so hinschreiben. Damit fing es an.
Es gibt Bücher, die Sie lange mit sich herumgetragen haben, ehe Sie sie an die Öffentlichkeit ließen ...
Ja, aber diesen Roman nicht. Ich habe ein halbes Jahr lang jeden Tag geschrieben. Beim Schreiben habe ich gemerkt, dass es da einen Selbstwiderspruch gibt: Der Erzähler will alles Vorstellbare meiden, und er will auch nichts schreiben – aber Verstummen, das schafft er auch noch nicht.
Wie würden Sie den neuen Roman charakterisieren?
„Statt etwas“ ist der Roman einer Selbstbefreiung. Erlebt wurde, dass Abhängigkeit deformiert. Also wird erzählt, wie einer versucht, sich von jeder Abhängigkeit zu befreien. Er will nicht mehr abgelenkt werden von sich. Auch so berühmte Formeln wie „Ich denke, also bin ich“ müssen überwunden werden. Ich bin, also bin ich, das ist das Handlungsziel dieses Entwicklungsromans. Und es wird erreicht.
In konzentrierter Form finden sich in diesem Buch viele Ihrer Themen. Handelt es sich hier um eine Art Summe?
Das könnte man sagen. Es sind Themen, die in Romanen eine Rolle spielen können, aber hier als solche behandelt werden. Das ist etwas ganz anderes als „Ehen in Philippsburg“ oder „Brandung“ und so weiter – also, anders als Romane mit Plätzen, Figuren und lauter Deutlichkeiten, mit all den Betten, Türen und Fenstern. Das scheint mir wie eine Vorbereitung gewesen zu sein auf dieses Buch. So genau kann man das in einem Roman nicht erzählen. Das ist das Angebot: alles ohne bürgerliche Adresse. Da gibt es zum Beispiel ein kurzes Kapitel, was Mann und Frau einander noch sagen – wissend, dass sie nicht mehr alles sagen können, wissend auch, dass der andere nicht mehr alles sagt. Das steht hier auf einer Buchseite – und dafür hat man früher einen ganzen Roman gebraucht. Das Buch ist durch seine Art, finde ich, genauer, als Romane sein können. Das hat mir große Schreibfreude gemacht. Das werde ich niemals wiederholen können – und ich werde nie mehr in eine solche Schreibfreude kommen.
Zur Person
Martin Walser, am 24. März 1927 in Wasserburg am Bodensee geboren, veröffentlichte nach einer Kafka-Dissertation und einem Erzählungen-Band im Jahre 1957 seinen ersten Roman: „Ehen in Philippsburg“. Zahlreiche Titel folgten – von der Anselm-Kristlein-Trilogie über „Ein fliehendes Pferd“, „Brandung“ oder „Ein springender Brunnen“ bis zum Roman „Ein sterbender Mann“, der zuletzt erschien. Hinzu kommen Essay-Bände, Tagebücher sowie Hörspiele und Dramen.
Ausgezeichnet wurde Walser vielfach. Zunächst im Jahre 1955 mit dem Preis der Gruppe 47 und zuletzt mit dem Internationalen Friedrich-Nietzsche-Preis. Walser ist Träger des Büchnerpreises und des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels.
„Statt etwas oder Der letzte Rank“ erscheint am Donnerstag im Rowohlt -Verlag (176 Seiten, 16,95 Euro, E-Book: 14,99 Euro). Im Münchner Literaturhaus liest er an diesem Donnerstag erstmals aus dem Roman.
Was genau ist der Vorzug dieses Ansatzes?
Die Freiheit von all diesen belletristischen Zwängen – den schönen und den nicht so schönen. Wenn man Romanfiguren bedienen muss, mit Recht, dann hat man sich auf das und das und das einzulassen. Jede Romanseite produziert neue Notwendigkeiten wie es weitergehen soll. Doch im neuen Buch gibt es diese Freiheit von all den schönen und weniger schönen Zwängen der Belletristik. Ich kann mich auch nicht satt sehen an dem Titel „Statt etwas“.
Der dann weitergeht mit „oder Der letzte Rank“. Dieser „Rank“ hat nichts mit „Ränke schmieden“ zu tun?
Nein, das ist Alemannisch, purer Dialekt: Du kriegst den Rank nicht mehr. In Wasserburg, wo ich geboren wurde, sagte zu meiner Zeit kein Mensch Kurve.
„Jeder Satz muss ans Ziel”
Was macht es mit einem Roman, wenn man auf die traditionelle Geschichte verzichtet?
Ich habe noch nie so viele Existenzmomente geschrieben wie dadurch, dass ich jetzt die Belletristik-Tour vermieden habe: „Ich hisste mich noch schnell wie eine Fahne hin zum Königsplatz.“ Zuerst dachte ich auch an den Untertitel „Für Leser, die schon viel gelesen haben!“ Das Wort Existenzialismus ist verbraucht – aber noch nie wurde bei mir so viel existiert wie in diesem Buch. Jeder Satz muss ans Ziel.
Sie bezeichnen den Text gleichwohl als Roman?
Die Frage ist natürlich berechtigt. Aber es ist möglich, ihn als Roman zu bezeichnen, weil es ja immer noch Entwurf und Schicksal einer bestimmten Person ist. Das ist keine Autobiografie, sondern ich folge einer Figur, die sich selbst befreien will. Der Mann schaut auf eine musterlose Wand und möchte auch davon unabhängig werden. Er sagt: Abhängigkeit deformiert.
Aber diese radikale Unabhängigkeit ist dann doch eine Utopie?
Das ist klar.
Am Ende möchte der Erzähler zudem mit allen Frieden schließen. So findet dieser Roman ein sehr positives Ende.
Oh ja! Und er möchte von einer Art Robinson entführt werden dahin, wo er am liebsten wäre.
Aber wo das ist, weiß er nicht.
Gut, aber das Wunschpotenzial bleibt. Die Sehnsucht nach der Sehnsucht, von der er auch spricht, ist eine transzendentale. Ich weiß nicht, wie der Leser das liest, aber von mir aus könnte man es lesen wie ein unaufhörliches Stimmungs-Angebot. Das klingt jetzt blöd, aber ich freue mich schon darauf, wenn ich aus dem Buch öffentlich lesen kann. Ich habe gemerkt, als ich das fürs Hörbuch gelesen habe, dass man es auf unterschiedliche Weise vortragen kann. Das ist für mich eine Freude.
In einem der 52 Kapitel flieht die Hauptfigur nach Amerika, weil ein Kritiker ihr hierzulande zu sehr zugesetzt hat.
Der Mann empfindet das so, dass er hier immer kleiner wird. Darum muss er weg. Das habe ich genauso erfahren, als ich einmal in die USA gereist bin. Und das würde ich jedem empfehlen, zumindest mir, wenn es hier nicht mehr auszuhalten ist: weit weggehen. Man glaubt nicht, wie hilfreich die Distanz ist. Unglaublich.
Beim Stichwort Amerika kommt man derzeit nicht an einer Frage zur Präsidentschaft von Donald Trump vorbei. Wäre Ihnen Amerika auch heute noch ein Zufluchtsort?
Wenn es lebensnotwendig ist, dass man weg ist, dann ist Amerika noch genauso da wie früher. Und, bitteschön, ich war nicht in der Wall Street, sondern bei den Leuten in New Hampshire und West Virginia. Und auch die sind noch immer da – selbst wenn sie Trump gewählt haben sollten. Amerika ist für mich ein unverderbbares Demokratiegelände. Bei Ronald Reagan hat man zu Anfang auch gesagt, das sei nur ein Schauspieler – und der wurde dann immer besser. Barack Obama ist ja Literatur in Person. Und Trump? Warten wir’s ab.
„Die Populisten sind eine Kampfansage gegen die politische Klasse.”
Wie deuten Sie das Aufkommen der Populisten auch in Europa?
Da sage ich ganz leichtfertig: Die Populisten sind eine Kampfansage gegen die politische Klasse. Im Fernsehen schaue ich fast nur politische Talkshows. Wenn ich dann zum Beispiel sehe, wie vier hochqualifizierte Experten für Rentensachen kreuz und quer feuern, kann das kein Normalverbraucher nachvollziehen. Trotzdem meine ich, wir sind in keiner Gefahr.
Zu politischen Themen haben Sie sich immer schon geäußert. Nun soll das auch dokumentiert werden?
Es kommt demnächst ein Buch heraus, das heißt „Ewig aktuell – Aus gegebenem Anlass“, das gibt Thekla Chabbi, meine Co-Autorin von „Ein sterbender Mann“ heraus. Das sind Beiträge von 1959 bis 2016, die einen zeitgeschichtlichen Anlass hatten. Wenn es da vier Aufsätze zum Vietnam-Krieg gab, dann will ich, dass die alle vorkommen. Der Leser sieht, dass der Autor ununterbrochen reagiert hat – auf Auschwitz, deutsche Schuld, deutsche Teilung und so weiter. Das ist für mich die wirkliche Biographie.
Apropos Biographie: Ist Ihnen bewusst, dass Sie vor 65 Jahren Ihren Doktortitel erlangt haben?
Ganz und gar nicht.
Sie haben Ende des Jahres 1951 bei Friedrich Beißner in Germanistik promoviert und in Geschichte bei Hans Rothfels, der in der NS-Zeit wegen seiner jüdischen Herkunft hatte emigrieren müssen.
Von der Prüfung weiß ich noch, dass ich Bismarck als Thema angegeben hatte. Rothfels fragte mich, was ich gelesen habe. Ich nannte das vierbändige Werk eines Historikers über Bismarck und räumte ein, dass ich nur drei davon gelesen habe. Da sagte Rothfels. „Da haben Sie Glück gehabt, denn der vierte Band ist noch nicht erschienen.“ Ich habe dann wenig später Rothfels’ Buch über die deutsche Opposition gegen Hitler fürs Radio besprochen.
Und was war Ihnen der Germanist und Kafka-Experte Beißner?
Ein reines Geschenk. Ich habe mit meinen Professoren Glück gehabt. Es gab auch noch eine mündliche Prüfung in Philosophie. Aber der mich da über Heidegger prüfte, hatte keine Ahnung. Ich durfte den natürlich nicht merken lassen, dass ich das merkte. Also eine Einübung ins Rollenspiel. Aber wenn Sie das jetzt mit dem Rigorosum vor 65 Jahren so sagen, rauscht die Zahl durch meinen Kopf, aber ich habe keinen Begriff davon.
Was bei Ihnen auch für Geburtstage gilt, selbst für einen runden wie den 90., den Sie im März begehen?
Richtig. Am liebsten wäre es einem, wenn man sagen könnte, alles, was in diesen Jahrzehnten geschehen ist, war unwillkürlich. Das entspricht am meisten dem Verlauf, so wie es vor sich geht – unwillkürlich.
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Mittlerweile sitzt auch Thekla Chabbi mit am großen Holztisch in der Wirtshausstube, die einmal den Namen des Schriftstellers tragen soll. Sie hat mitgewirkt am Roman „Ein sterbender Mann“, der vor einem Jahr erschienen ist, und war gemeinsam mit Walser auf Lesetournee gegangen. Sie erzählt von dem Sammelband mit Walsers „nicht politischen, sondern zeitgeschichtlichen“ Einlassungen, den sie herausgeben wird. Sie hat dazu auch ein Nachwort verfasst. Dann wird es Zeit, auf die Speisekarte zu schauen: Wiener Schnitzel für sie, Schweinsbraten für ihn. Auf dass es aber nicht untergehe, betont Walser noch einmal, wie viel Freude ihm dieser neue Roman gemacht habe. Wäre der Schnupfen nicht, der ihn in der vergangenen Nacht erst um 5 Uhr habe einschlafen lassen, wie er sagt, so könnte man sich Martin Walser glatt als glücklichen Menschen vorstellen.