Isolation in Corona-ZeitenFürchten wir die Langeweile mehr als das Virus?
- Xavier de Maistre schrieb im 18. Jahrhundert einen Roman über eine Reise durch sein Zimmer.
- Auch viele von uns werden wegen des Corona-Virus' in die erzwungene Einsamkeit geschickt.
- Ob wir die Quarantäne als Hausarrest, als Dauerfernsehsendung oder als fantastischen Trip wahrnehmen, bleibt unsere freie Wahl.
Köln – Xavier de Maistre ist kein Stubenhocker und ängstlich ist er auch nicht. Im Alter von 20 Jahren, er hat schon drei Jahre dem Königreich Piemont-Sardinien als Soldat gedient, meldet er sich freiwillig, um am ersten Ballonflug im Herzogtum Savoyen teilzunehmen. Eine – wir schreiben das Jahr 1784 – unerhörte Reise.
Zehn Jahre später findet sich de Maistre in einem Zimmer in der Zitadelle von Turin wieder. Zwar ist er aus einem Duell gegen einen piemontesischen Offizier siegreich hervorgegangen – es ging um eine schöne Frau –, doch haben seine Vorgesetzten die unerlaubte Fehde mit 42 Tagen Hausarrest geahndet.
Der Lebemann sitzt fest
So sitzt der Lebemann also in seiner eher karg eingerichteten Klause fest. Eine Erfahrung, die derzeit mehr und mehr Menschen nachvollziehen können, die durch Arzt, Arbeitgeber, Schulministerium oder innere Räson in Quarantäne geschickt wurden. Und nun der dürftigen Aussicht gegenüberstehen, auf absehbare Zeit mit nichts als den eigenen vier Wänden konfrontiert zu sein.
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Gut, es sind 220 fortschrittsreiche Jahre vergangen, wir haben jetzt Netflix. Aber der Gedanke, sich Tag für Tag mit zunehmenden Widerwillen durch die Menüs der Streamingdienste zu scrollen, ist so tröstlich nicht. Der Punkt, an dem man die Langeweile mehr fürchtet als das Virus, an dem einen allein die Vernunft noch in der Vereinzelung hält, dürfte relativ schnell erreicht sein.
Folgen wir also dem Beispiel des unerschrockenen Aeronauten Xavier de Maistre — und unternehmen eine Fahrt. Wohin? „Ich habe eine Reise von zweiundvierzig Tagen“, schreibt der Arretierte nicht ohne Stolz, „um mein Zimmer unternommen und beendet“. Die Reisevorbereitungen seien denkbar einfach. Man benötige nur einen „Schlupfwinkel, wohin man sich verkriechen und vor aller Welt verstecken kann“. Schon kann es losgehen.
Er begründet das Genre der Zimmerreise
De Maistre beschreibt, wie er sich in seinem Armsessel zurückgelehnt hat, die Vorderbeine zwei Zoll hoch vom Boden erhoben, wie er dabei, sich nach rechts und links wiegend, unmerklich vorwärts kommt: „Auf diese Weise reise ich, wenn ich nicht in Eile bin.“
Tatsächlich hat der französische Autor mit seiner wunderlichen Beschreibung ein neues Literaturgenre ins Leben gerufen: das der Zimmerreise. Was zuerst widersinnig klingt, trifft doch den Kern des Reisens. Der Zustand des Reisens, schreibt etwa der ungarische Filmtheoretiker Béla Balázs, einer der geistigen Erben de Maistres, in „Ein Baedecker der Seele“, ist ein innerer Zustand. „Man verhält sich anders zur Außenwelt.“ Wozu es ja gar nicht nötig sei, aus dem Zimmer zu gehen.
Der Morgenrock wird zum Reisemantel. Schließlich ist selbst eine Gipfelbesteigung vor allem eine Auseinandersetzung mit der eigenen Psyche, eine geistige Übung. Nicht anders die Reise um das Zimmer, deren Reiz ja gerade darin besteht, die allzu vertraute, mithin kaum noch bewusst wahrgenommene Umgebung mit neuen Augen zu sehen. Die fehlende Entfernung zu kompensieren, indem man sich der eigenen Intimsphäre entfremdet. „Ich mache eine Entdeckung nach der anderen“, wundert sich de Maistre.
Auseinandersetzung mit der eigenen Psyche
Im Gegensatz zur Gipfelbesteigung oder dem Abhaken üblicher Sehenswürdigkeiten bleibt die Zimmerreise ein einmaliges Erlebnis: „Kein Sterblicher kann sich dessen rühmen, sie noch einmal anzutreten; umso mehr als die Welt, in der sie sich abspielte, nicht mehr vorhanden ist“, lobt sich der Autor in einer späteren Ausgabe seines überraschend erfolgreichen Reiseberichts.
Der Erfolg ist nicht schwer zu erklären: De Maistre mag „Die Reise um mein Zimmer“ geschrieben haben, um die Souveränität über seine Zwangslage wiederzuerlangen; immer wieder betont er, dass er seine Reise freiwillig unternimmt, ja bereits lange vor dem Vorfall geplant habe, der ihn für 42 Tage um die Außenwelt gebracht hat: Niemand könne ihn der Freiheit berauben, niemand ihn daran hindern, „durch den unendlichen, mir stets zugänglichen Weltenraum nach meinem Belieben zu reisen“. „Die Unermesslichkeit und die Ewigkeit stehen zu meinen Diensten.“
Sehnsucht, sich von der Welt abzuwenden
Womit er eine Sehnsucht bedient, die viele Menschen teilen: Sich von der Welt und ihren Händeln abzuwenden, aus dem Hamsterrad der täglichen Produktion auszusteigen. „Es gibt keine Ruhe mehr auf dieser traurigen Erde“, heißt es in „Die Reise um mein Zimmer“.
Auch Hausarrest und Quarantäne sind einsame Inseln, eine Palme macht noch keinen Unterschied. So betrachtet liegen im Schatten des Coronavirus paradiesische Wochen vor uns. Die beliebte Frage nach den Dingen, die man auf eine einsame Insel mitnehmen würde, beinhaltet das besondere Versprechen des Ortes, den ganze Ozeane vom Rest der Welt trennen: Die Konzentration auf das, was wesentlich ist, und zwar für jeden Menschen verschieden. „Splendid isolation“, wie man auf den britischen Inseln sagt.
Je nun, so famos werden die nächsten Wochen wohl nicht werden. Doch ob wir sie als Hausarrest, als Dauerfernsehsendung oder als fantastischen Trip wahrnehmen, das bleibt unsere freie Wahl.