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Israelisches Tanzgastspiel in KölnDer Mensch als erotisches, widerständiges Wesen

Lesezeit 3 Minuten
More than
Shahar Binyamini
Eine Produktion von LaLaCollective
Choreografie: Shahar Binyamini
 
Choreografie, Regie & Konzept: Shahar Binyamini
Tänzer*innen: Joseph Kudra, Roni Milatin, Dor Nahum, Or Saadi, Maya Botzer Simhon & Naor Walker
Musik: Mark Eliyah, Mohammad Reza Mortazavi & Gamelan Degung
Licht: Ofer Laufer
Kostüme: Charlie Le Mindu & Shahar Binyamini
Künstlerische Beratung: Lea Yanai
 
Foto: Tamara Dekel

Stene aus „More Than“ von Shahar Binyamini

Shahar Binyamini, Choreograf aus Tel Aviv, zeigte im Kölner Schauspiel seine Arbeit „More Than“. Unsere Kritik.

Man wüsste schon gern, wie der israelische Choreograf Shahar Binyamini seinen Titel „More Than“ eigentlich vollenden würde. ‚Mehr als‘ ... Tanz? Als Körper? Sex? Menschen? Oder ganz einfach: Es ist immer mehr, als man denkt, der eigene Horizont ist zu unterkomplex für diese Welt – und vermutlich auch für das, was da auf der Bühne geschieht? „More Than“ des aus Tel Aviv kommenden Choreografen ist im Dezember 2023 uraufgeführt worden. Schwer vorstellbar, dass die Ereignisse des letzten Oktobers, der brutale Terror der Hamas, keinen Einfluss auf die Produktion gehabt haben sollen – doch wenn politisch, dann allenfalls subkutan.

Wie andere israelische Choreografen, die derzeit erfolgreich durch Europa touren, stammt auch Shahar Binyamini aus der berühmten Batsheva-Dance-Talentschmiede von Ohad Naharin. Sieben Jahre tanzte er dort, wurde Naharins Assistent und einer seiner Gaga-Missionare, eine Methode, die vor allem den Emotionen im Körper nachspürt und mittlerweile verehrt wird als wäre es eine religiöse Erweckungs-Technik. Die Suche nach dem Ursprung der Gefühle prägt laut Selbstaussagen nun auch die Ästhetik Binyaminis.

Eine dünne Schicht schwarzer Torf bedeckt den Bühnenboden, es duftet und staubt. Jede Bewegung hinterlässt Spuren auf der Tanzfläche wie auch auf den Körpern. Im hautfarbenen Nude-Look treten die drei Frauen und drei Männer auf: Beiger Ganzkörper-Nylon, darauf dunkle Linien, die an Blutadern, Organe, auch Wurzel-Strukturen erinnern. Sehr sexy laufen sie mit sanftem Hüftschwung auf Zehenspitzen, schön, aber auch fremd wie Alien-Models auf dem Catwalk. Abrupt schlagen die Gliedmaßen aus, sie kriechen, zucken, scheinen halb Mensch, halb Tier. In zwei aufregend choreografierten Duos schlingen jeweils Mann und Frau so vertrackt die Gliedmaßen umeinander – der Verfasser des Kamasutra müsste vor Neid erblassen.

Die Musik dazu von Komponisten wie Mark Eliyahu und Mohammad Reza Mortazavi mixt Klänge von traditionellen persischen Instrumenten wie der Stachelgeige oder Daf-Trommeln, aber auch elektronischen Goa-Trance, wie er auf dem Nova-Festival beim Massaker von Re'im gespielt wurde. Es gibt in dieser Choreografie immer wieder zu Boden gehende Körper, einmal wird eine Tänzerin leblos durch den Sand von der Bühne geschleift, am Ende zappeln alle in einem grotesken Rave, der deutlich kein Glücksrausch ist, sondern Raserei zwischen Panik und Irresein.

Und doch lassen sich kaum mal so präzise Aussagen assoziieren, wie etwa in dem Moment, in dem eine Tänzerin zwei Hände voll Erde aufnimmt, sie fest umklammert und entschlossen ins Publikum starrt als wolle sie sagen: Das ist meine Erde, mein Land. Was vielmehr dominiert an diesem Abend, ist eine bizarre Sinnlichkeit. Die Selbstinszenierung des Menschen als erotisches, triebhaft-naturnahes und zugleich sehr widerständiges Wesen. „More than … simple“.

Nächste Vorstellung bei Tanz Köln: 21.-23.06.2024 im Depot 2: „The People United“ von Richard Siegal und dem Ballet of Difference.