Am 03. März findet im Rahmen der lit.cologne eine Lesung statt, in der Texte Überlebender der Shoah vorgetragen werden.
„Ist das ein Mensch?“lit.Cologne zeigt das literarische Gedächtnis der Shoah-Überlebenden
Ist das ein Mensch? Diese Frage stammt aus einem autobiographischen Bericht, in dem der italienische Schriftsteller Primo Levi seine Erfahrungen in Auschwitz beschreibt. Sie lässt sich zweideutig verstehen: einerseits als eine Anklage gegen die Nazis, die in ihrer Grausamkeit jede Grenze der Menschlichkeit verletzten, andererseits als die Beobachtung, dass Juden systematisch entmenschlicht wurden.
„Ist das ein Mensch?“, steht auch als Überschrift über eine Veranstaltung der lit.Cologne, in der Texte Überlebender der Shoah im Mittelpunkt stehen. Die in München ansässige Autorin Lena Gorelik hat diesen Abend kuratiert. Zusammen mit Maryam Zaree und Carolin Emcke erstellte sie aus den Texten von Primo Levi, Jean Améry, Ruth Klüger, Jorge Semprún und anderen Autorinnen und Autoren ein literarisches Programm gegen das Vergessen.
Lesung „Ist das ein Mensch?“ versucht die Vielfalt der Opfer darzustellen
Unter der Herrschaft der Nazis gab es den Versuch, Vielfalt auszulöschen. Vielfältig sind also auch die Stimmen derer, die über ihre Verbrechen berichten können. Den Kuratorinnen war diese Vielfalt ein besonderes Anliegen. In der Lesung kommen deshalb auch verschiedene Opfergruppen durch ihre Texte zu Wort, etwa Sinti und Roma oder Homosexuelle. Unter den Texten die richtigen Passagen auszuwählen sei dabei eine Mammutsaufgabe gewesen, erzählt Lena Gorelik im Gespräch mit dieser Zeitung. „Es war ein Jahr lang Arbeit, lesen, diskutieren, streichen, Texte umstellen, streiten, Entscheidungen wieder rückgängig machen. Es war eine lange kuratorische Arbeit.“
Trotz ihrer unterschiedlichen Perspektiven berichten die Überlebenden oft von ähnlichen Erfahrungen. Viele erzählen von der Ankunft im Konzentrationslager, von Helfern, die ihnen das Überleben ermöglichten und von den ersten Entwürdigungen. Lena Gorelik beschreibt eine weitere Gemeinsamkeit: „Alle Autor:innen, die diese literarischen Berichte verfasst haben, widmen einen großen Teil ihrer Texte der Zeit nach 1945 und dem Beschreiben dessen, dass ein Weiterleben eigentlich unmöglich ist. Dass man immer gezeichnet sein wird von dem, was die Nazis einem angetan haben.“
lit. Cologne wendet sich mit der Veranstaltung gegen das Vergessen
Sehr eindrücklich wird das in einem Text des österreichischen Schriftstellers Jean Améry. In seinem Essay „Tortur“ beschreibt er seine Foltererfahrungen: „Es ist noch immer nicht vorbei. Ich baumele noch immer, zweiundzwanzig Jahre danach, an ausgerenkten Armen über dem Boden, keuche und bezichtige mich. Da gibt es kein ‚Verdrängen‘.“
Die Lesung im Rahmen der lit. Cologne soll einen Beitrag dazu leisten, an die vielen Verbrechen der Nationalsozialisten zu erinnern, während die Zeitzeugen allmählich aussterben. In Deutschland waren auch Jahrzehnte nach 1945 diejenigen Stimmen dominant, die sich gegen eine kritische Auseinandersetzung mit den deutschen Verbrechen äußerten. Diese erklärten entweder pauschal alle Deutsche zu Opfern oder signalisierten mit dem Wunsch nach einem Schlussstrich, dass diese Missstände der Vergangenheit angehören.
Autorin Lena Gorelik beschreibt Schwächen in der deutschen Erinnerungskultur
„Das ist etwas, das uns wegen der Schlussstrichdebatte ein Anliegen war“, erzählt Lena Gorelik. „Weil es oft den Anschein hat: Es war ganz schlimm, aber dann war es zum Glück vorbei. Es ist eben nicht vorbei: Nicht für die Menschen, die das erleben mussten, aber auch nicht, wenn man sich anschaut, was es für Kontinuitäten gibt an Fremdenhass, Antisemitismus, Homosexuellen- oder Transfeindlichkeit.“
Nach wie vor sieht Gorelik in der deutschen Erinnerungskultur großen Verbesserungsbedarf. Diese sei in erster Linie eine Ansammlung von Ritualen und Phrasen geworden, die oft abstrakt bleibe oder diejenigen Stimmen ausblende, die von den Verbrechen konkret berichten können. „Es wird nie ausgesprochen, was passiert ist. Man spricht immer von dem Unaussprechlichsten, dem Schrecklichsten, aber die Geschichten werden nicht erzählt. Das, was tatsächlich passiert ist, geht verloren.“
Eine diverse Literatur macht die Gesellschaft in ihrer Vielfalt erst sichtbar
Lena Gorelik stammt selbst von einer Familie russischer Juden und kam 1992 als Kontingentflüchtling von St. Petersburg nach Deutschland. In ihrem autobiographischen Buch „Wer wir sind“ erzählt sie von ihren Erfahrungen. Solche Migrationsgeschichten habe sie als Kind aber nie lesen können. Lange Zeit seien nur die Geschichten einer privilegierten Welt erzählt worden, die aber nicht die vielfältige Gesellschaft wiedergeben würden, in der wir heute leben. Die Diskriminierung von Menschen anderer Herkunft, sexueller oder geschlechtlicher Identität wurde so nicht abgebildet.
„Ich glaube, dass, nachdem die Welt und unsere Gesellschaft zum Glück diverser wird, auch die Geschichten diverser werden müssen. Ich bin dankbar und beim Lesen über jede dieser Geschichten zu Tränen gerührt, weil ich dann feststelle: Ich bin nicht allein damit. Ich habe meine ganze Kindheit Bücher gelesen über Menschen, mit denen ich nichts gemein hatte. Es ist so schön zu lesen, dass ich nicht allein bin.“
„Ist das ein Mensch?“ – Gegen das Vergessen. Mit Carolin Emcke, Lena Gorelik und Maryam Zaree. Freitag, 03. März 2023, 19:30 Uhr am Schauspiel Köln im DEPOT 1. Schanzenstraße 6-20, 51063 Köln. Vorverkauf: 20 € / 17 € erm., Abendkasse: 27 € / 22 € erm.