100 Jahre Joseph BeuysZum Geburtstag des legendären Menschenfischers
Köln – Es war ein kurzer Sommer der Anarchie, damals in der Klasse von Joseph Beuys. Vor einem Fernsehauftritt hatte die Künstlergruppe Yiup ihrem Lehrer den berühmten Hut geraubt und ihm stattdessen eine Narrenkappe mit der Inschrift „Fluxus“ aufgesetzt. Hinterher trat man in Rückgabeverhandlungen: Beuys bot eintausend Runkelrüben, um sein Markenzeichen auszulösen, die aufmüpfige Studentenschaft forderte ihn auf, zehntausend Dollar in einen Fonds gegen den Vietnamkrieg einzuzahlen. Beuys lehnte ab, gab seinen Hut verloren und stand am Ende doch als moralischer Sieger da: Er verkaufte seine Narrenkappe als Fluxus-Objekt und hatte, wie Robert Hartmann, einer der Rädelsführer von Yiup, später zerknirscht eingestand, die anarchistische Hut-Aktion in die Schranken seiner Kunst gewiesen.
An dieser Anekdote aus dem Leben von Joseph Beuys ist gleich dreierlei erstaunlich: Die Gelassenheit, mit der Beuys auf den Raub seiner ikonischen Kopfbedeckung reagierte; die Unlust, sich einfach nur politisch, ohne Umweg über die Kunst, zu engagieren; und die Tatsache, dass, wo Beuys war, immer auch die Medien waren. Mit der klassischen Vorstellung des einsamen Künstlers im Atelier hatte er in den 1960er Jahren so radikal gebrochen wie vor ihm nur die Dadaisten und die Kunst zu einer öffentlichen „Aktion“ gemacht.
Beuys: Die ganze Welt war seine Bühne
Im Prinzip war die ganze Welt für Beuys eine Bühne, aber am liebsten war es ihm offenbar, wenn sich die Welt in ein Fernsehstudio verwandelte. Streift man heute durch Beuys-Kataloge oder Online-Videoportale, staunt man jedenfalls nicht schlecht: Wohin Beuys auch geht, folgt ihm ein Rudel Kameramänner und Fotografen. Sie sind da, wenn er einem toten Hasen die Kunst erklärt, weil der nicht so verbildet wie die Menschen ist; sie folgen ihm, wenn er auf der Documenta für mehr Demokratie durch Volksabstimmungen in den Boxring steigt; und sie warten schon auf ihn, wenn er gemeinsam mit abgelehnten jungen Künstlern das Sekretariat der Düsseldorfer Kunstakademie besetzt.
Man stößt heute auf so viele Bilder von Beuys „in Aktion“, dass man sich bald nicht mehr so sicher ist, wer dieser Beuys nun eigentlich war: der große „Schamane“ und „Menschenfischer“ der deutschen Nachkriegskunst oder doch vor allem eine Medienpersönlichkeit. Wer hätte je bezweifelt, dass Joseph Beuys, der Erfinder des erweiterten, wenn nicht grenzenlosen Kunstbegriffs, eine Mission hatte und wusste, wie er seine Botschaft unters Volk bringt?
Aber wie er bis heute bei Youtube und anderen Kanälen als Hans Dampf durch alle Mediengassen saust, erstaunt den Zuschauer dann doch. Beuys debattierte im Fernsehen und eilte von Podium zu Podium, wo er seinen Kritikern, denen er entweder zu modern, zu utopisch oder zu esoterisch war, regelmäßig wie ein Stück Seife durch die Hände flutschte. Auf dem Höhepunkt der aktionistischen Verwegenheit stellte sich der ordentliche Professor der Düsseldorfer Kunstakademie vor die versammelten Honoratioren der Stadt, um nichts als Ö-Geräusche ins Mikrofon zu schnarren.
Kunst: Jede „Aktion“ war auch eine Werbeveranstaltung
Jeder Auftritt war eine „Aktion“ und jede „Aktion“ eine Werbeveranstaltung für den erweiterten Kunstbegriff. In den setzte Beuys eine große Hoffnung: Wenn sich unsere Vorstellung von Kunst radikal verändern lässt (und Beuys’ Werk ist das Paradebeispiel dafür), kann sich vielleicht auch unsere Vorstellung von Staat und Ökonomie verändern.
„Ich bin nicht der Ansicht, dass wir in einer Demokratie leben“, sagte Beuys in wechselnden Formulierungen, die klassische Kunst war für ihn „ein Dreck“ ohne jede revolutionäre Kraft. Ändern wollte Beuys das mit einem berühmten Bauerntrick: Er erklärte jede kreative soziale Interaktion zu Kunst, wodurch jeder Mensch ein Künstler in Möglichkeitsform wird. „Nur noch 2272 Tage bis zum Ende des Kapitalismus“, stand als Beuys'sches Aufsatzthema an einer Schultafel, und die Mittel, die dieses Ende herbeiführen sollten, waren seine eigentlichen Energiespeicher: Protest, Aktionen und Gemeinschaft. Als radikaler Kapitalismuskritiker wirkt Beuys heute verblüffend aktuell.
Nach Beuys Tod: Beuys'sche Aura mit Filmaufnahmen beschwören
Solange der 1986 verstorbene Beuys noch lebte, ließ sich der Aktionskünstler nicht vom beinahe klassischen Bildhauer und Zeichner trennen, der Beuys auch war – seit seinem Tod muss der aktionistische Teil des Werks ohne ihn auskommen. Manche Kuratoren behalfen sich damit, die Beuys'sche Aura mit Filmaufnahmen zu beschwören, seine oft gerühmte, manchmal aber auch bespöttelte charismatische Präsenz, die seine zahlreichen „Jünger“ dazu inspirierte, selbst Künstler oder Kunstlehrer zu werden.
In der großen Düsseldorfer Beuys-Retrospektive von 2011 taten die Kuratorinnen dann etwas geradezu Unerhörtes: Sie behandelten den „Menschenfischer“ Beuys, um den zuvor stets quasi-religiöse Glaubenskämpfe ausgefochten worden waren, wie jeden anderen Künstler und stellten keinen Mythos, sondern Werke aus. Es war nicht zu seinem Schaden: Zwar erscheint Beuys’ Spektrum als Zeichner, Bildhauer und Performance-Künstler relativ eng und lässt sich im Kern mit dem Werktitel „Zeige deine Wunde“ (für das Frühwerk) und der Idee einer heilsamen Kunst umschreiben. Innerhalb dieser Grenzen war Beuys aber ein virtuoser Gestalter entlegener Materialien.
Beuys Medizin: Zurück zur Natur
Beuys lebenslanges Thema war die leibliche und seelische Verletzlichkeit des Menschen. Seine Medizin war das „Zurück zur Natur“, zu einfachen, urwüchsigen Stoffen wie Fett, Filz, Erde oder Wachs, die er durch esoterische Lehren zusätzlich mit Bedeutung auflud. Sein frühes Werk ähnelt einem therapeutischen Wundenlecken nach den Erfahrungen des Weltkriegs, den Beuys als Luftwaffensoldat seit 1941 miterlebt hatte.
Seine in den 50er Jahren entstandenen Tusch- und Bleistiftzeichnungen zeigen zerbrechliche Tier- und Menschenkörper, auch der Mensch ist bei ihm ganz Kreatur, verletzlich, todgeweiht, Schutz suchend in einer feindlichen Welt. Man ahnt den Einfluss des für seine ausgezehrten Figuren berühmten Bildhauers Wilhelm Lehmbruck, und auch die christliche Kreuzsymbolik spielt noch eine große Rolle.
Später wird Rudolf Steiners Anthroposophie zur Leitschnur für den Künstler Beuys, der aus ihr teilweise eine individuelle Mythologie ableitet. So steht seine Signatur, das rötlich-braune „Braunkreuz“, für eine Kunst, die das Erdverbundene der Farbe Braun mit dem Heilsversprechen des Roten Kreuzes mischt. Diese Bedeutungsverschiebung ist zugleich eine Art Selbstreinigung von nazistischem Gedankengut, denn selbstredend stehen Kreuz und Braun auch für das Militär im NS-Regime.
Nach Depression wird Heilung zu seinem Thema
Nach der Überwindung einer langjährigen Depression machte Beuys die Heilung zu seinem eigentlichen Thema: Heilung von den Krankheiten der modernen Zivilisation. Wie ein Medizinmann setzte er auf „ursprüngliche“, wärmespendende Materialien und fügte sie in seinen Skulpturen als Gegenkräfte zur modernen Technik und überhaupt zu Produkten „entfremdeter“ Arbeit ein. Er wickelte grauen Filz um meterlange Winkelprofile, ließ ein „Rudel“ von 24 Schlitten mit Filzdecken, Stablampen, Fettklumpen und medizinischen Gurten zum Abbinden von Blutungen aus einem ausrangierten VW-Bus „springen“ oder staffierte einen Ausstellungssaal mit dem Inventar eines Schamanen aus. Während das „Rudel“ für ein Zurück zu „primitiven“ Lebensweisen steht, versammelte Beuys im Namen des Schamanismus spirituell aufgeladene Objekte (Filzrollen, Bergkristalle, Tierfelle, die Uniform eines Sanitäters) und installierte sie in einen nach dem Prinzip des rechten Winkels ausgerichteten Museumsraum.
Ähnliche Gegensätze finden sich in vielen Installationen Beuys’, und es ist kein Zufall, dass bei ihm auch das Museum für die Krankheit der technischen Zivilisation steht. Beuys wollte die Kunst aus den Kunsthäusern befreien oder wenigstens deren Anforderungen unterlaufen. Ein Fettkissen auf einem Stuhl ist das Gegenteil dessen, was im Museum als Wert für die Ewigkeit gilt.
Die alte bürgerliche Kultur war für Beuys ein Auslaufmodell. Bei einer Aktion verspottete er die Tradition des Hauskonzerts, indem er einen Notenständer mit Sauerkraut bewarf und das entbeinte Klavier mit „Braunkreuz“-Farbe bemalte; später wurden die Requisiten der in Tumult mündenden Performance zu einer musealen Installation. Die Botschaft wirkt heute etwas plump, aber das über den Notenständer drapierte Sauerkraut hat seine spätdadaistische Würde behalten. Überhaupt hatte Beuys einen Blick für die ästhetische Qualität scheinbar banaler Dinge. Bei ihm wird selbst eine keimende Kartoffel zu einem Wunder der Natur.
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Es war wohl mehr als eine Nebenwirkung des erweiterten Kunstbegriffs, dass bei Beuys selbst Kunst und Leben zusehends in eins zu fließen schienen. Anlässlich eines Kunstfestivals verfasste er einen autobiografischen Lebenslauf, in dem seine (von Krefeld nach Kleve versetzte) Geburt beispielsweise zur „Ausstellung einer mit Heftpflaster zusammengezogenen Wunde“ wird. In ähnlicher Weise verwandelte Beuys für jedes Lebensjahr ein prägendes Ereignis in eine „Ausstellung“ oder ein „Dokument“, was vielleicht erklärt, warum er nicht der Versuchung widerstehen konnte, sein ästhetisches Programm durch einen biografischen Gründungsmythos zu untermauern.
Gerne erzählte Beuys seine Tatarenlegende, nach der ihn, den im Weltkrieg über der Krim abgeschossenen Soldaten, Nomaden mit Hilfe von Fett- und Filzumschlägen gesund pflegten und von seiner Begeisterung für die Nazi-Ideologie kurierten. Mittlerweile ist diese Geschichte als Märchen entlarvt, aber das Beuys'sche Werk hat diesen Mythos im Grunde nie gebraucht. Das Leiden, das Beuys inszeniert, ist größer als er, es zielt auf das Kreatürliche, auf die existentielle Verlorenheit des Menschen. Für diese alten Motive der Kunstgeschichte hat Beuys neue Ausdrucksformen gefunden. Welcher Art seine persönlichen Kriegs- und Nachkriegserlebnisse waren, spielt letztlich keine Rolle mehr: Sie sind in seinen Werken stärker präsent als in seinen Erzählungen.