Die Kölner Künstlerin Julia Scher wird als Prophetin unserer Überwachungswelt gefeiert. Jetzt ist ihr Werk im Museum Abteiberg in Mönchengladbach zu sehen.
Julia ScherWarum diese Künstlerin seit Jahrzehnten Wohnzimmer und Betten überwacht
Für eine erfolgreiche Künstlerkarriere können Nebenjobs mitunter nützlich sein. Manchmal, wie bei Julia Scher, gehören sie vielleicht sogar zum besseren Teil der Ausbildung. Als Studentin hatte Scher die Anfänge der Videokunst erlebt und in Tonstudios ihrer Geburtsstadt Hollywood gearbeitet, bevor sie damit begann, als Nebenjob eines Nebenjobs (eigentlich war sie Hausmeisterin in einem Aerobic-Studio) Überwachungsanlagen in privaten Heimen zu installieren. Später in New York tat sie das gleiche für eine Filiale des Museums of Modern Art.
Eines Tages in den 80er Jahren kam Scher dann auf den Gedanken, die sich ausbreitende Überwachungstechnik zum Thema ihrer Kunst zu machen. Sie versteckte Kameras in Galerien, wo sich die Besucher dann selbst auf Überwachungsmonitoren entdecken konnten, und schmuggelte 1993 für das MoMA in San Francisco vorab aufgezeichnete Szenen zwischen die live ausgestrahlten Bilder. Man sah sich also selbst im Visier der Kamera und dann, nachdem der Monitor auf einen anderen Museumsbereich umgeschaltet hatte, wie andere Besucher durch leere Flure hasten oder panisch eine Treppe hinunterstürzen. Welcher Impuls würde gewinnen: Neugier oder Fluchtreflex?
Julia Scher lehrte 15 Jahre an der Kölner Kunsthochschule für Medien
Jetzt ist diese geradezu prophetische Arbeit im Museum Abteiberg in Mönchengladbach zu sehen, nicht weit von Julia Schers Wahlheimat Köln. Zwischen 2006 und 2021 lehrte die freiwillige Exilantin an der Kölner Kunsthochschule für Medien und blieb der von ihr früh erforschten Hochsicherheitsgesellschaft weiterhin treu. Bereits 1991 hatte Scher das Wohnzimmer des Aachener Sammlerehepaars Gaby und Wilhelm Schürmann mit vier klobigen Kameras, fünf kastenförmigen Monitoren, mehreren VHS-Rekordern, dem entsprechenden Kabelsalat sowie einem Warnschild ausgestattet und damit einen weit über das Rheinland hinaus bestaunten Coup gelandet. Auch diese Arbeit ist auf dem Abteiberg zu sehen und wirkt wie eine Ausgrabung aus der Steinzeit von Technik- und Medienphobien.
In Köln war es allerdings auch deutlich stiller um Julia Scher geworden – erst seit Mitte der 2010er Jahre wurde sie allmählich als Orakel unserer heutigen Überwachungsgesellschaft wieder entdeckt. War Scher in den 80er Jahren noch auf Unverständnis gestoßen, weil die Menschen nicht ahnten, was auf sie zukommt, so ist uns das Gefühl, beobachtet zu werden, heute längst zur zweiten Natur geworden. Sicherheitskameras an jeder Straßenecke sind das eine; das andere ist das Spionagegerät, das wir als Smartphone stets bei uns tragen. Heute ist Überwachung eine Weltsprache, sagt Scher, die jeder versteht.
In den 80er Jahren setzte sich Scher für eine vierstündige Beichte vor die Videokamera
Die Ausstellung in Mönchengladbach ist die vierte Museumsschau für Scher innerhalb kurzer Zeit – offenbar versuchen die Häuser mit Schers schon längst historischen Arbeiten Anschluss an die soziale Medienwelt zu finden. Auch deren Machtergreifung scheint sie in den 80er Jahren bereits erahnt zu haben, als sie sich für eine vierstündige Beichte vor die Kamera setzte. TikTok-tauglich ist das nicht, aber die Idee, sich für Zuneigung öffentlich auszustellen und zu entblößen, ist schon da.
Allerdings geht es bei Scher selten um den goldenen Käfig der Selbstdarstellung, ihr Thema ist die Sicherheitsarchitektur der modernen Welt. Auf dem Abteiberg begrüßt ihre passiv-aggressive Navigator-Stimme die Besucher gleich hinter der Tür, die erste Videokamera versucht gar nicht erst, sich hinter einer Topfpflanze zu verstecken. Man sieht die Kunst an und sieht, wie die Kunst zurückschaut – im Kleid antiquierter Überwachungstechnik. Da wird einem beinahe nostalgisch zumute, doch geht es Scher eher darum zu zeigen, dass auch Museen Hochsicherheitstrakte sind.
Während die Kunst der großen Brüder in Politik und Wirtschaft darin besteht, uns die Überwachung nicht spüren und zugleich als erstrebenswert erscheinen zu lassen, arbeitet Scher tapfer und gerne auch mit drastischen Mitteln gegen unsere Verblendung an. Für die Serie „Embedded“ staffierte sie drei Betten („Mama Bed“, „Papa Bed“ und „Baby Bed“) an den Bettpfosten mit Kameras und Monitoren aus und drapierte die Liegen mit Märchenbüchern, Armeeuniformen und einer schwarzen Lederpeitsche. Man denkt dabei an die Pole von Voyeurismus und Exhibitionismus, Kontrolle und Disziplin. Aber unweigerlich auch an Kinderpornografie und die Abgründe privater Schutzräume.
In ihrer jüngsten Arbeit spinnt Julia Scher Fluchtgedanken und verabschiedet sich von der Erde. Angegurtet auf Zahnarztstühle reist man in Richtung eines von Windhunden bewohnten Planeten, was entfernt an das Freiheitsversprechen der amerikanischen Greyhound-Buslinie erinnert, aber letztlich genauso bescheuert ist, wie es hier klingt. Vielleicht will uns Scher damit aber auch nur sagen, dass der Überwachungsstaat westlich-kölnischer Prägung die beste aller möglichen Welten ist.
„Julia Scher – Hochsicherheitsgesellschaft“, Museum Abteiberg, Mönchengladbach, Di.-Fr. 11-17 Uhr, Sa.-So. 11-18 Uhr, 26. März bis 20. August. Eine Publikation zur Ausstellung soll im Juni erscheinen.