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Netflix-DokuSo nah ist man Kanye Wests Genie und Wahnsinn noch nie gekommen

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Kanye West und seine Mutter Donda 

New York – Kanye Wests Debütalbum „The College Dropout“ ist gerade 18 Jahre alt geworden. Menschen, die geboren wurden, bevor der junge Rapper und Produzent mit einem Geniestreich die Vorherrschaft des Gangsta-Rap beendete, fahren schon Auto. Und wissen ziemlich sicher, wer dieser Ye, wie er heute genannt werden will, ist: Der Ex-Mann von Kim Kardashian.

Wahlweise auch: Der geistig labile, aber zuverlässig größenwahnsinnige Donald-Trump-Fan, der nicht vor der Aussage zurückschreckt, Afroamerikaner hätten die Sklaverei selbst gewählt. Und kurz darauf seine eigene, selbstredend zum Scheitern verurteilte Präsidentschaftskandidatur verkündet.

Kanye West hinter einer abstrusen Medien-Persona verschwunden

Es ist als wären der Mann und Künstler vollständig hinter einer abstrusen Medien-Persona verschwunden, nicht zuletzt aus Wests eigenem Antrieb. Dabei hat er von 2004 bis 2016 sieben meisterliche Alben veröffentlicht und mit ihnen mehr als einmal nicht nur den Kurs des Hip-Hop vorgegeben, sondern der populären Musik generell.

Dieses mediale Zerrbild könnte „Jeen-Yuhs“, die lange Dokumentation über Kanye West, die dieser Tage in drei wöchentlich gestaffelten Folgen auf Netflix erscheint, korrigieren. Das gilt jedenfalls für Akt Eins und Zwei des Kanye-Dramas, in denen der Aufstieg des jungen Produzenten aus Chicago zum zehnfach Grammy-nominierten Rapper aus größtmöglicher Nähe gezeigt wird.

Mit den sorgfältig kontrollierten Image-Filmchen, die Stars für gewöhnlich als intime Dokumentationen über sich ausgeben, hat „Jeen-Yuhs“ nämlich nichts gemein.

Kanye West träumte vom Hip-Hop-Ruhm

Clarence Simmons Jr., genannt Coodie, verfolgt eigentlich eine Karriere als Stand-up-Comedian, in seinem Zweitjob als Moderator für einen Offenen Kanal interviewt er zahlreiche Protagonisten der Chicagoer Rap-Szene. Lokale Berühmtheiten, nicht mehr. Einer aber fällt Coodie auf, weil er so viel ehrgeiziger ist als seine Kollegen, weil diese von ihm mit professioneller Ehrfurcht sprechen. Also beschließt der Autodidakt einen Film über Kanye Omari Wests Traum vom Hip-Hop-Ruhm zu drehen, im Stile der Basketball-Doku „Hoop Dreams“. Fortan weicht seine Kamera nicht mehr von Wests Seite, das ist zumindest der Eindruck, den „Jeen-Yuhs“ vermittelt. Während der Dreharbeiten stößt dann noch der MTV-Grafiker Chike Ozah als Co-Regisseur dazu.

Wir begleiten den Musterknaben West bei seinem Umzug nach New York, lauschen, wie er den höflich desinteressierten Vorzimmerdamen des Plattenlabels Roc-A-Fella Records seine neuesten Reime vorträgt, sehen ihn schuljungengleich dem überlebensgroßen Label-Boss Jay-Z die Hand geben, obwohl er doch die Hälfte der Beats für dessen Erfolgsalbum „The Blueprint“ programmiert hat. West steckt das alles mühelos weg. Schon damals, das fällt in der Rückschau als erstes auf, strotzt er vor Selbstbewusstsein.

Bedingungslose Mutterliebe

Trifft man dann auf seine Mutter Donda, wird auch klar, woher diese erstaunliche Souveränität rührt: Die alleinerziehende Anglistikdozentin und ihr Sohn sind sich in gegenseitiger Bewunderung zugetan. Dr. Donda C. West ist genau das bedingungslos unterstützende Elternteil, von dem jedes Kind träumt.

Seine vergleichsweise gut behütete Mittelschichtsherkunft ist jedoch exakt das Manko, das Kanyes Karriere ins Stolpern bringt: Die Rap-Granden denen er sich andient, wollen in ihm nur den nerdigen Beat-Bastler sehen, für einen Rapper ist er zu höflich und zu gut gekleidet – und überhaupt: dieser Rucksack!

Aber der junge West gibt einfach nicht auf und manchmal nimmt seine Sehnsucht nach Anerkennung schon komische Züge auf: Etwa wenn er einem rollerfahrenden Jungen auf den Gängen eines Studios anhält, um ihm all von ihm produzierten Tracks aufzuzählen, die dieser eventuell kennen könnte. Oder wenn er einer Uni-Lerngruppe im Fast-Food-Restaurant ungefragt erklärt, dass er bald ein Album herausbringen und ein Star werden wird.

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Da hat er bereits einen lebensgefährlichen Autounfall überstanden und noch mit zertrümmerten Kiefer im Krankenhaus einen Song geschrieben, in dem er den Crash zum Erweckungserlebnis umdichtet: „Through the Wire“ wird sein erster Hit.

Die letzten Szenen der zweiten Folge zeigen West der seinen ersten Grammy im nach oben ausgestreckten Arm hält: Viele seiner Freunde hätten sich gefragt, sagt er in seiner Dankesrede, wie er reagieren würde, wenn er nicht gewinnt. „Ich schätze, wir werden es niemals wissen.“

Die Wege von Coodie und Kanye trennten sich bald danach. Doch 2017 holte der inzwischen milliardenschwere Rapper den Filmemacher wieder in seinen inneren Zirkel zurück. Und der filmte seine psychischen Zusammenbrüche, seine Ausraster und religiösen Erweckungserlebnisse. Die dreiteilige Dokumentation hätte Ye am liebsten verhindert. Und einen Vertrauensbruch stellt sie durchaus da. Nur ist sie zugleich auch das Beste, was dem vom Sockel gestürzten „Jeen-Yuhs“ passieren konnte.

Die beiden ersten Teile von „Jeen-Yuhs“ sind bereits auf Netflix zu sehen, Teil 3 folgt am 2. März