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Interview mit Urenkel von Astrid Lindgren„Kein Kind soll sich wegen ‚Pippi Langstrumpf‘ unwohl fühlen“

Lesezeit 7 Minuten
Inger Nilsson als Pippi Langstrumpf in den gleichnamigen Filmen – eine von Astrid Lindgrens erfolgreichsten Figuren. /Jacob Forsell

Inger Nilsson als Pippi Langstrumpf in den gleichnamigen Filmen – eine von Astrid Lindgrens erfolgreichsten Figuren.

Die Astrid Lindgren Company kümmert sich um das literarische Erbe von Astrid Lindgren. Im Interview spricht ihr Urenkel Johan Palmberg über seine Erinnerungen, die Entfernung des N-Wortes aus den Büchern und Gewaltszenen in einer Kindergeschichte.

Johan Palmberg, Sie waren elf, als Ihre Urgroßmutter Astrid Lindgren gestorben ist. Was ist Ihre präsenteste Erinnerung an Sie aus Ihrer Kindheit?

Mein Vater hat mir erzählt, dass sie mit ihm noch im Park auf Bäume kletterte. Für mich war sie eher eine ältere Verwandte, die wir ab und zu besuchten. Aber Astrid hatte immer ein gewisses Verständnis dafür, worüber man sprechen wollte. Das unterschied sie von anderen Erwachsenen, die ich kannte. Sie fragte nicht, wie es in der Schule war, sondern was ich mit dem Stock machen will, den ich dabei hatte. Und als ich lesen lernte, habe ich bei ihr mal aus einem ihrer „Michel aus Lönneberga”-Bücher laut vorgelesen. Sie amüsierte sich sehr über ihre eigene Geschichte.

Welche Rolle haben ihre Bücher für Sie gespielt?

Wir hatten alle ihre Hörbücher, die sie selbst auf Schwedisch eingesprochen hat, und ich habe die Kassetten die ganze Zeit auf einem kleinen Rekorder abgespielt. Vor allem von „Karlsson vom Dach“ war ich ein großer Fan. Meine Mutter sagte damals: „Man weiß immer, wenn Johan da ist – man hört zuerst Astrids Stimme.“ Intellektuell habe ich auch verstanden, dass die Person, die ich manchmal besuchte, dieselbe Person war, die diese Bücher geschrieben hat. Aber es waren zwei verschiedene Vorstellungen in meinem Kopf. So richtig verstanden habe ich die Verbindung erst später.

Gab es da einen bestimmten Moment?

Ja, durch Astrids Tod wurde ich das erste Mal wirklich mit ihrem Ruhm konfrontiert. Sie war gerade gestorben, und die ganze Familie ging in ihre Wohnung, und plötzlich strömten die Leute zu ihrer Wohnung und legten Blumen und Geschenke vor die Tür. Ich hatte das Gefühl, dass sich die Leute irgendwie in unsere Privatsache einmischen. In dem Moment verstand ich erst wirklich, wie viel sie den Menschen bedeutet hatte.

STOCKHOLM 20230223 Astrid Lindgrens dotter Karin Nyman, hennes barnbarn Karl Johan Nyman och barnbarnsbarnet Johan Palmberg med Ada Palmberg Mossop med anledning av att Emil i Lönneberga jubilerar. STOCKHOLM SVERIGE x10030x *** STOCKHOLM 20230223 Astrid Lindgrens daughter Karin Nyman, her grandson Karl Johan Nyman and great-grandson Johan Palmberg with Ada Palmberg Mossop on the occasion of Emil in Lönnebergas jubilee STOCKHOLM SWEDEN x10030x, PUBLICATIONxNOTxINxDENxNORxSWExFIN Copyright: xJonasxEkströmer/TTx EMIL I LÖNNEBERGA TTABB0000000000165331

Astrid Lindgrens Tochter Karin Nyman mit Enkel Karl Johan Nyman und Urenkel Johan Palmberg.

Lesen Sie Ihrem eigenen Kind heute auch aus ihren Büchern vor?

Ja, natürlich. Aber meine Tochter ist erst zweieinhalb, ich singe ihr viele der Lieder vor, und wir schauen manchmal die alte Pippi-Serie. Das liebt sie. Aber für vieles ist sie noch zu jung. Sie hat also noch eine Menge Astrid-Lindgren-Bücher vor sich.

Die zentralen Themen von Lindgrens Büchern sind oft zeitlos, aber die Sprache verändert sich über die Jahrzehnte. Wie kann man das literarische Erbe am Leben halten? In der Zukunft könnte es ja passieren, dass Kinder Teile davon nicht mehr verstehen.

Darüber sprechen wir oft. Es macht es für uns einfacher, dass Astrid in diesen Dingen sehr pragmatisch war. Vor ungefähr zehn Jahren beschlossen wir deshalb, das schwedische N-Wort aus den Büchern zu entfernen. Das Ziel ist, dass die Bücher von so vielen Kindern wie möglich gelesen werden. Kein Kind soll sich durch die Bücher angegriffen fühlen oder sich wegen „Pippi Langstrumpf“ unwohl fühlen. Ich weiß, dass viele Autoren und ihre Nachfahren das anders betrachten. Manche sind der Meinung, dass man den Text eines Autors niemals ändern sollte.

Sie sehen das offenbar anders.

Das ist ein berechtigter Standpunkt. Gleichzeitig sind die Originalbücher von Astrid immer noch erhältlich und lesbar. Unsere Hauptzielgruppe sind Kinder und wenn etwas dazu führt, dass die Bücher nicht in ihre Hände gelangen können, haben wir unsere Aufgabe nicht erfüllt.

Sind moderne Verfilmungen wie die neue „Ronja Räubertochter”-Serie auch ein Weg, um das literarische Erbe am Leben zu halten?

Absolut. Filme und Serien sind eine Möglichkeit, neue Kinder an die Geschichten heranzuführen. Wir glauben, dass die Welt ein besserer Ort wird, wenn jeder Astrid Lindgrens Geschichten erleben kann. Gleichzeitig sind Filmprojekte immer langwierig und kompliziert. Aber Astrids Charaktere und Geschichten müssen überall vertreten sein, wo Kinder sind.

Wie stark sind Sie als Unternehmen an so einer Neuverfilmung beteiligt?

Wir sind ziemlich stark involviert. Wir gewähren den Machern die Rechte, einen Film oder eine Serie zu einem Buch zu machen, und haben normalerweise Genehmigungsrechte auch für die Drehbücher. Bei „Ronja Räubertochter“ hatten wir direkt das Gefühl, dass die Macher eine gute Idee haben. Die Diskussionen waren daher hauptsächlich sprachlicher Natur.

Was waren das für Diskussionen?

Die Figur Ronja verwendet im Original nur Wörter, die ans mittelalterliche Schwedisch angelehnt sind. Uns war es wichtig, dieses Gefühl beizubehalten. Wir trafen uns regelmäßig mit dem Autor und den Produzenten und besprachen die Drehbücher. Wenn die Drehbücher fertig sind, treten wir einen Schritt zurück und wenn Fragen auftauchen, besprechen wir die natürlich.

Hat die Astrid Lindgren Company am Ende jeder Debatte eine Art Vetorecht?

Das ist von Projekt zu Projekt unterschiedlich. Irgendwo im Prozess haben wir immer eine Art Vetorecht, wo wir die Handbremse ziehen können. Aber das gilt nicht bis zur Premiere. Das würde die Filmemacher, die auch viel investieren, zu sehr verunsichern.

Gab es bei der Verfilmung von „Ronja Räubertochter” auch Dinge, die Sie ändern mussten, weil sie nicht gut gealtert sind und man sie heute nicht mehr sagen würde oder sie als politisch inkorrekt gelten?

In dem Buch gibt es sprachlich nichts, was problematisch ist. Womit wir bei „Ronja Räubertochter” konfrontiert waren, ist, dass die Geschichte manchen Kindersendern zu gewalttätig ist. Es gibt eine Szene, in der Ronjas Vater Mattis ihren Freund Birk entführt und brutal mit ihm umgeht, die aber ein wichtiger Teil der Geschichte ist. Manche Eltern geben ihren Kindern „Ronja Räubertochter” schon mit sechs Jahren, aber es ist ganz klar erst eine Geschichte für Kinder ab elf oder zwölf Jahren. Daher richtet sich die neue Serie bewusst an ältere Kinder, um die ursprünglichen Elemente der Geschichte beibehalten zu können.

Drehbuchautor Hans Rosenfeldt sagte, dass er dennoch weggelassen hat, dass Mattis seine Frau schlägt. Dabei ist es interessant, dass es diese Passage im Buch gibt. Denn Ronja und Birk stellen im Gegensatz zu ihren Eltern Geschlechterbilder dar, die der damaligen Gesellschaft eher voraus sind: Sie darf auch stark sein, er auch verletzlich …

Ronja und Birk stehen in der Geschichte symbolisch für die neue Generation, die gegen die alte Welt anarbeitet. Sie beschließen auch, keine Räuber zu sein und sich vom Leben ihrer Eltern zu lösen und etwas Neues zu finden, weil sie feststellen, dass das, was ihre Eltern getan haben, nicht wirklich funktioniert.

Glauben Sie, dass Astrid Lindgren ihrer Generation in Bezug auf Geschlechterrollen voraus war?

Ich weiß nicht, wie Astrid darüber gedacht hat. Sie sprach über die Rechte von Kindern und Tieren, aber nicht viel über feministische Themen. Aber die Figur „Pippi Langstrumpf“ ist natürlich eine feministische Ikone. Dass sie diese Figur erfand, zeigt, dass sie in Bezug auf Geschlechterfragen ihrer Zeit voraus war. Aber ich weiß nicht, ob sie das selbst so betrachtete. Mir fällt nur eine Situation ein, als sie sich für feministische Rechte eingesetzt hat.

Welche war das?

Da sollte sie in einer Kirche nahe ihrer Heimatstadt einen Vortrag halten. In der schwedischen Kirche hatte es vorher eine Abstimmung darüber gegeben, ob Frauen für das Priesteramt zugelassen werden sollten, und diese Kirche hatte dagegen gestimmt. Astrid schrieb daraufhin einen Brief an die Kirche und zitierte aus der Bibel, dass Frauen in der Gemeinde schweigen sollten: „Das ist offenbar Ihre Ansicht. Deshalb werde ich nicht kommen und sprechen.“ Sie hatte dieses grundlegende humanistische Ideal, zu dem die Sicht auf Geschlechterrollen dazugehörte und das auch ihre Charaktere widerspiegeln. Aber ich glaube nicht, dass es die treibende Kraft bei der Erschaffung der Charaktere war.

Widersprüchlichkeiten gab es zumindest rückblickend auch bei einer anderen Thematik: In dem Roman „Kati in Amerika” etwa murmelt ihre Romanheldin „heftige Verfluchungen meiner eigenen Rasse“. Lindgren erkannte und verurteilte Rassismus – und schrieb dann in einem anderen Buch trotzdem Witze über fünf schwarze Jungen, bei denen sie das N-Wort nutzte. Wie erklären Sie sich das?

Wenn man es aus heutiger Sicht betrachtet, gibt es eindeutig Dinge, die heute in der Sprache als rassistisch gelten, und dazu gehören auch die Witze. Aber ich denke, als sie diese Worte und Witze benutzte, wollte sie in keiner Weise erniedrigend sein. Im Schwedischen war das N-Wort damals üblich. In „Kati in Amerika“ sieht die Hauptfigur die Schrecken von Jim Crow und die Folgen der Sklaverei. Ich glaube, das ist das Buch, bei dem wir Astrids Ansichten dazu am nächsten kommen. Dennoch verwendet sie in diesem Buch das N-Wort. Ihr Gebrauch dieses Wortes ist eher ein Produkt des systemischen oder kulturellen Rassismus, der Teil der Gesellschaft damals war, als dass es etwas über sie als Person aussagt.

Sie glauben also, dass sie das N-Wort heute nicht mehr benutzen würde?

Sie hätte dieses Wort heute nicht benutzt.

In Deutschland scheint die Debatte um das N-Wort teilweise auch eine Generationenfrage zu sein. Für jüngere Menschen ist es selbstverständlicher, es nicht zu benutzen, ältere beharren manchmal darauf, dass sie es immer benutzt hätten und doch nicht verletzend meinten.

Wörter verändern ihre Bedeutung im Laufe der Zeit und haben dies schon immer getan. Aber ich denke, dass es bei der Diskussion über die Sprache in Kinderbüchern noch eine zusätzliche Ebene gibt. Manche Menschen, die mit diesen Büchern aufgewachsen sind, sehen solche Änderungen als Angriff und fragen dann zum Beispiel: „Wollt ihr damit sagen, dass ich ein Rassist war, weil ich das als Kind gelesen und genossen habe?” Dabei ist es ein natürlicher Prozess, dass Sprache sich verändert. Wir werden diese Debatten fortlaufend haben.


Johan Palmberg, geboren 1990, ist der Urenkel der 2002 verstorbenen schwedischen Autorin Astrid Lindgren, deren Bücher von „Pippi Langstrumpf“ über „Michel aus Lönneberga“ bis zu „Ronja Räubertochter“ zu Kinderbuchklassikern weltweit wurden. Sie sind in mehr als 100 Sprachen übersetzt worden und haben sich weltweit geschätzt 170 Millionen Mal verkauft. Palmberg, der Politikwissenschaften studierte, arbeitet seit 2009 für die Astrid Lindgren Company, die das literarische Erbe Lindgrens verwaltet, schützt und verbreitet, und ist in dem Familienunternehmen unter anderem auch für Verfilmungen der Bücher für Fernsehen und Kino zuständig.

Zuletzt war er stark eingebunden in eine Neuverfilmung von „Ronja Räubertochter“ als Serie, die in anderen Ländern bereits auf Netflix erschienen ist und in Deutschland nun ab dem 20. Dezember in der ARD-Mediathek streambar ist. Palmberg ist außerdem Jurymitglied des seit 2003 verliehenen Astrid-Lindgren-Gedächtnis-Preises, der weltweit höchstdotierten Kinder- und Jugendliteraturauszeichnung.