Kölner Autorin Anne Gesthuysen„Die Sprache wird durchs Gendern nicht verhunzt“
Anne Gesthuysen ist am Niederrhein in der Gemeinde Alpen aufgewachsen, dem Schauplatz ihres neuen, vierten Romans „Wir sind schließlich wer“. Die 52-Jährige lebt schon lange in Köln und ist mit dem Polittalk-Moderator Frank Plasberg verheiratet. Das Paar hat einen Sohn. Ein ausführliches Gespräch (hier können Sie es als Podcast hören) über das Schreiben, die Probleme von Kindern in der Corona-Krise und die provinziellen Seiten Kölns und die Gender-Diskussion: „Ich versuche meinen Mann in Sachen Political Correctness und Feminismus auf die richtige Linie zu bringen, zum Beispiel beim Gendern“, sagt die Autorin unter anderem.
Frau Gesthuysen, was macht den Niederrhein spannender als Köln als Ausgangspunkt Ihrer Geschichten?
Spannender ist es da sicher nicht. Aber Geschichten über Menschen findet man ja überall, und ich kenne die Niederrheiner gut. Ich habe die prägenden Jahre meiner Kindheit dort verbracht, das kriege ich nicht mehr raus.
Woran merken Sie, dass Sie keine Kölsche sind?
Wenn ich mich mit Frauen meines Alters vergleiche, die aus der Stadt kommen, denke ich immer, man sieht doch in jeder Pore, dass ich vom Land bin. Ich habe immer das Gefühl, dass Frauen, die in der Stadt aufgewachsen sind, eleganter durchs Leben gehen. Die wissen, wie man sich anzieht. Im Grund meines Herzens gehe ich immer mit Reitstiefeln raus. Ich bin eben ein Pferdemädchen. Mittlerweile finde ich das aber auch okay so. Ich weiß gar nicht woran ich es sonst festmachen kann. Vielleicht am Thema Pünktlichkeit. Ein Städter verlässt zur verabredeten Zeit gerademal das Haus. Aber wer auf dem Land bei Xanten lebt, rechnet eine halbe Stunde Autofahrt für alles ein. Solche Sachen habe ich verinnerlicht.
Sind Sie in Ihrer Heimatgemeinde eine Heldin oder auch ein wenig Nestbeschmutzerin? In Ihrem Roman kommt ja auch eine geistige Enge zum Ausdruck, ein Misstrauen gegenüber Fremden, eine soziale Kontrolle.
Zumindest die Menschen von damals, die mich kennen, freuen sich, wenn ich zu einer Lesung komme. Alles hat zwei Seiten – auch das Dorfleben. Natürlich wollte ich der sozialen Kontrolle entfliehen, als ich 18 war. Ich bin dann auch gegangen und weiß nicht, ob ich jetzt noch einmal resozialisierbar wäre. Aber soziale Kontrolle führt auch zu einer starken Integration. Man ist Teil einer Gemeinschaft.
Was haben Sie an Köln lieben gelernt?
Die Kölner sind mir nicht fremd, weil dieses Dörfchen aus dem ich komme, auch im Rheinland liegt. Die Mentalität ist ähnlich. Dieses „Trink doch einen mit“ ist einladend und das gemütliche Entspannte auch. Wenn Streit entsteht auf der Straße, versuchen die Kölner erst einmal zu schlichten. Das ist ein sehr freundliches Klima.
Was ist die Kehrseite?
Köln hat etwas sehr Bräsiges. Wir reden über die viertgrößte Stadt Deutschlands, dafür ist sehr provinziell hier.
Wenn Sie Köln als Autorin einfach umschreiben könnten, was würden Sie ändern?
Ich würde erst einmal diese nicht gelungene Innenstadt umschreiben. Ich würde diesen wunderschönen Rhein mehr in die Stadt integrieren. Vor allem optische Dinge also. Ich würde immer eine Stadt wie Köln bevorzugen, in der die Menschen warmherzig sind und von mir aus auch ein bisschen klüngelig. Das gilt natürlich nicht für die Stadtregierung.
Worum geht es in Ihrem Roman?
Es geht ums Ankommen. Bei sich selbst, in einem Dorf, in seiner Familie und wie man wieder auf den Weg zurückfindet, wenn man gescheitert ist. Das sind die übergeordneten Themen. Wir haben eine evangelische Pastorin, die in dem Dorf, wo sie ihren Dienst anfängt, erst einmal auf eine konservative Struktur stößt, von der Gemeinde zunächst als Mädchen des kranken Pastors abgehandelt wird. Während die Pastorin versucht, ihre Gemeinde ein wenig ins 21. Jahrhundert zu überführen, kämpft sie gleichzeitig mit ihrer katholischen Adelsfamilie. Sie ist das schwarze Schaf und hat mit ihrer Schwester so gar nichts gemein. Die beiden sind zwei Kehrseiten einer Medaille. Beide haben ein Päckchen zu tragen durch schicksalhafte Ereignisse in ihrem Leben. Die eine macht was draus, die andere zerbricht daran. Dahinter steht die Frage, wie es sein kann, dass zwei Menschen trotz gleicher Gene und gleicher Sozialisation völlig unterschiedlich werden. Dem versuche ich nachzuspüren.
Wer Ihren Roman liest, gleicht seine eigene Familienkonstellation unwillkürlich ab. Wie etwa die Tatsache, dass man immer Kind bleibt.
Das kommt in den besten Familien vor: diese Rollenzuschreibung, aus der man nicht rauskommt. Man rutscht immer wieder in alte Muster rein. Wobei ja nicht jede Rolle schlecht ist. Meine Rolle als kleinere Schwester fand ich sehr angenehm. Bei den Schwestern im Roman, Anna und Maria, ist die Situation natürlich zugespitzt. Beide sind extrem eifersüchtig aufeinander, ahnen aber nicht, dass die andere die gleichen Gefühle entwickelt hat.
Die Hauptfigur Anna van Betteray ist eine abtrünnige Katholikin, die dann evangelische Pfarrerin wird. Wie halten Sie es mit der Religion in einem Kölner Erzbistum, das sich nach Kräften bemüht, seine Mitglieder zu vertreiben?
Ich bin gewillt, den Bemühungen des Erzbistums nachzugeben. Ich kann eine Kirche nicht verstehen, die Vorbildfunktion haben will und dann so mit Kindern umgeht, zulässt, dass so mit Kindern umgegangen wird und diese Verbrechen dann noch vertuscht. Das ist fatal. Ich wünsche mir für unseren Sohn durchaus, dass er christliche Werte mitbekommt, aber christliche Werte und Kirche kriege ich kaum noch übereinander.
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In der Corona-Krise waren viele Menschen einsamer. Schriftstellerin sein ist per se einsam, während Sie als Moderatorin immer von Menschen umgeben waren. Haben Sie sich an das Alleinsein gewöhnt oder ist das immer noch ein notwendiges Opfer?
Am Anfang eines Buchs finde ich das Alleinsein ganz gut, weil ich dann mit mir und der Geschichte ringe. Wo will ich überhaupt hin? Ich habe in der Phase fast Hemmungen, meine kruden Ideen mit jemandem zu besprechen und muss es erst einmal für mich runterschreiben. Wenn das einmal passiert ist, habe ich eine wunderbare Lektorin, (...) mit der es dann sehr dialogisch wird.
War die Corona-Krise dann gar nicht so ein Einschnitt für Sie?
Ich musste nicht ins Home Office, da war ich ja schon. Dafür war plötzlich das Haus voll – und das war katastrophal fürs Schreiben. Mein Mann und ich sind sonst häufiger getrennt, weil er in Berlin ist. Plötzlich kam er permanent ins Zimmer gerannt, wenn ich versucht habe, zu schreiben. Unser Sohn war auch zu Hause, und dann lag mir noch der Hund zu Füßen. In dieser Zeit bin ich nicht besonders gut vorangekommen. Ich habe 150 Seiten geschrieben und anschließend wieder weggeschmissen. Diese Seiten waren sehr düster. Die Krise hat da schon abgefärbt.
Schreiben erfordert auch viel Disziplin. Sind Sie sehr diszipliniert?
Kann ich auf jeden Fall sein. Ich bin schon zwei Marathons gelaufen. Ich habe dabei nie auch nur eine Sekunde daran gezweifelt, dass ich ankomme. Die Frage war immer nur in welchem Zustand und in welcher Zeit. Das ist beim Roman auch so. Ein Freund von mir hat mal gesagt, ich schwanke zwischen Minderwertigkeitskomplex und Größenwahn. Ich bin nie zufrieden, finde nie richtig gut, was ich mache. Das ist wohl der Teil Minderwertigkeitskomplex. Andererseits, das ist das größenwahnsinnige Element in mir, denke ich, ich könnte alles. Ich kriege halt nur meine PS einfach nicht auf die Straße.Kinder haben unter der Corona-Krise stark gelitten und tun es immer noch. Ihr Sohn ist zehn Jahre alt. Über welche politische Entscheidung haben Sie sich geärgert?
Ärger ist nicht meine Kategorie. Vor anderthalb Jahren sind wir in eine Situation gekommen, von der keiner wusste, wie sie sich entwickelt. Sich im Nachhinein über Dinge aufzuregen oder zu erheben, erscheint mir ein bisschen wohlfeil. Dennoch: ich fand es extrem problematisch, die Schulen zu schließen, weil es Kinder gibt, für deren Zukunft das dramatische Konsequenzen hat. Für privilegierte Menschen wie uns, die Geld, Garten und Möglichkeiten haben, waren diese Lockdown-Zeiten erträglich. Aber es gibt Kinder, die haben in dieser Zeit nicht schreiben und rechnen gelernt und werden diese Lücke nicht mehr aufholen können. Es gibt Kinder, die sich 15 Kilo angefuttert haben, die darunter leiden. Mir wurde zu wenig darüber diskutiert, ob wir die Schutzmaßnahmen vernünftig gewichten. Aber leider sind wir in unserer Gesellschaft ja gerade nicht mehr in der Lage, vernünftig zu diskutieren.
Wie meinen Sie das?
Wir leben doch in Grauzonen, drängen einander aber immer mehr in Richtung Schwarz oder Weiß. Das ist fatal für eine Demokratie.
Impfpflicht ist ein weiteres heiß diskutiertes Thema.
Ich wäre sofort dafür. Ich glaube, dass es manchen Menschen, die sehr mit sich hadern, die Entscheidung erleichtert. Die Freiheit des Einen hört da auf, wo die Freiheit des anderen komplett eingegrenzt wird – oder die Freiheit einer ganzen Gesellschaft.
„Mein Mann und ich haben eine sehr herzliche Streitkultur. Wir setzen uns laut krachend und sehr emotional auseinander.“ Das haben Sie in einem Interview gesagt. Worüber streiten oder diskutieren Sie gerade am Küchentisch? Die Ampelkoalition?
Über Politik leider wenig, wobei wir da ohnehin ähnliche Meinungen haben. Aber in Sachen Political Correctness und Feminismus weichen unsere Ansicht schon ein bisschen voneinander ab. Ich versuche meinen Mann dann immer auf die richtige Linie zu bringen, zum Beispiel beim Gendern.
Was ist die richtige Linie?
Die richtige Linie ist: Entspannt euch. Ich finde es selbstverständlich, dass junge Leute Sprache ändern wollen. Ich finde es auch richtig und bin sicher, es wird sich eine Form durchsetzen, die gangbar ist. Zu sagen, die Sprache wird durchs Gendern verhunzt, finde ich total absurd. Wir sprechen schon lange nicht mehr so, wie Goethe geschrieben hat. Sprache verändert sich. Ich möchte aber nicht in eine Ecke gerückt werde, weil ich über 50 bin und spreche, wie mir der Schnabel gewachsen ist. Man muss nicht sofort unterstellen, dass jede Nachlässigkeit gleich ein politisches Statement bedeutet. Die Unschuldsvermutung gilt in der Diskussion nicht mehr und das geht mir auf die Nerven.
Und beim Thema Feminismus?
Ich bin feministischer als mein Mann, was erst einmal nicht überraschend ist. Was er aus seiner Position heraus nicht sieht, ist dieses Alltags-Machotum: Wenn Männer unter sich sind und unbewusst den Mann für verlässlicher oder besser halten als eine Frau. Wenn man sie direkt danach fragte, würden alle antworten: Nein, so denken wir natürlich nicht. Aber eigentlich haben sie doch mehr Zutrauen zu einem Typen. Viele Männer verweigern es, sich darüber Gedanken zu machen, sich bewusst zu machen, dass das in ihrem Kopf so drin ist. Dabei ist der unbewusste Alltagssexismus die Basis von Sexismus.
Von der Moderatorin zur Bestseller-Autorin: Könnten Sie sich auch vorstellen, nochmal etwas ganz anderes zu machen in Ihrem Leben?
Vorstellen kann ich mir das immer. Ich finde, man muss seine Routinen erschüttern. Aber ich hänge schon auch immer noch am Moderieren. So ab und an würde ich das wohl auch noch mit grauen, weißen Haaren machen. Bis sie mich rausschmeißen.
Der WDR hat sich vor einigen Monaten von der Moderatorin Simone Standl getrennt. Dabei hat ihr Alter eine Rolle gespielt. Viele hat das empört.
Jedes Ding hat zwei Seiten. Gewohnheit ist schön und Zuschauer mögen es, wenn Menschen, die sie kennen, ihr ganzes Leben vor der Kamera stehen. Auf der anderen Seite habe ich mit 27 Jahren auch mit den Hufen gescharrt und gedacht: Können die jetzt bitte mal Platz machen für mich? Es muss eben jemand Älteres gehen, damit jemand, der jünger ist, nachkommen kann. Ich habe nicht das Gefühl, dass es beim WDR eine dramatische Altersdiskriminierung gibt. Ich darf ja auch noch moderieren, derzeit die „Aktuelle Stunde“. Und wenn man mich da irgendwann rausschmeißt, wird es sicher nicht nur daran liegen, dass ich über 50 bin.
Woran merken Sie die Moderatorin in sich, auch wenn Sie jetzt nicht mehr so oft moderieren?
Ich weiß gar nicht, ob das in mir steckt. Als Kind war ich extrem schüchtern und bin deswegen gehänselt worden, das war allerdings nicht so verletzend wie heute. Früher wurde permanent gelästert über alles und jeden und trotzdem war derjenige immer auf allen Partys dabei. Es war keiner perfekt. Der eine hatte Hasenzähne, der nächste Segelohren, einer hat gestottert. Ich bin immer puterrot geworden, schon wenn mich jemand angeguckt hat, ich wurde deshalb Emily Erdbeer genannt. Aber mein Mitteilungsbedürfnis war irgendwann größer, also habe ich mich gezwungen, etwas zu sagen. Ich habe mich, glaube ich, gezwungen bis vor die Kamera.
Sie sind 52 Jahre alt. In welchen Situationen sind Sie unentspannt damit, dass der nächste runde Geburtstag der 60. sein wird?
Wenn ich darüber nachdenke, wie wenig Zeit noch bleibt. Ich habe seit zehn Jahre das Gefühl, mit mir im Reinen zu sein. Wie viel Zeit ich schon damit vertan habe, mich selbst zu geißeln und zu kritisieren. Jetzt ist die Zeit, die mir noch bleibt, kürzer als die, die ich schon gelebt habe. Das finde ich total erschreckend. Aber ich muss 100 Jahre alt werden, das habe ich meinem Sohn versprochen.