Kölner FotografWie John Kolya Reichart eine Straße mit Gesichtern porträtiert
Köln – Dies ist der aufregende Bildband einer nicht sonderlich aufregenden Straße. Einer zwar vitalen, doch eher profanen Großstadtstraße, die mit knapp zwei Kilometern Länge durch Berlin-Schöneberg führt, wobei sie manches über Krieg, Kriegstrümmer und Wiederaufbau erzählen könnte. Immer noch wird die eine oder andere Baulücke geschlossen, ohne dass sich das Straßenbild entscheidend verändert. Womit die Eisenacher Straße aber sichtlich gut leben kann: Sie ist ein disparater Ort, der vieles aushält und dadurch den hier ansässigen Menschen vieles möglich macht.
Eine gewöhnliche Straße in Berlin aus Sicht eines Kölners
An der Eisenacher leben Alt und Jung, Alteingesessene und frisch Zugezogene, Arme und Reiche, Menschen unterschiedlichster Herkunft und Ethnien nebeneinander. An einem Ende gibt es Geschäfte für einschlägige Lederkleidung, am anderen steigen die kulinarischen Düfte außereuropäischer Länder auf, dazwischen liegen Supermarkt, Postfiliale, Cafés und Spielplätze, womit die Straße genauso gut auch in Köln oder anderswo liegen könnte.
Zum Bildband
John Kolya Reichart: „Eisenacher Hundert. Gesichter einer Straße“. Hardcover, Fadenheftung, 100 schwarz-weiße Fotografien, 216 S., 38,00 EUR. Bestellungen übers Internet: https://eisenacher100.de
Der Filmemacher, Autor und Fotograf John Kolya Reichart stammt aus Köln, seit drei Jahren wohnt er nunmehr mit seiner Familie an der Eisenacher Straße in Berlin. Und hatte eine faszinierende Idee, vielleicht, um selbst besser Wurzeln zu schlagen: Fotografierend wollte er vom Leben erzählen, aus dem Nebeneinander der Menschen ein visuelles Miteinander machen, zumindest für die Verweildauer eines Ausstellungsbesuchs oder die Lektüre eines opulenten Fotobands.
„Eisenacher Hundert“ zeigt Berliner von 0-100 Jahren
Dessen Titel lautet „Eisenacher Hundert“ und zeigt die Gesichter einer Straße: 100 fotografische Porträts von Menschen aus jeweils einem anderen Lebensjahr, von der einjährigen Jamal bis zur hundertjährigen Ursula, die das Buch mit dem Satz beschließt: „Eigentlich gefällt’s mir überall. Nur zuhause will ich gerne sein.“
Ein Stück weit folgt Reichart der Vorgehensweise des Kölner Fotografen August Sander, der in seinem epochalen Porträtwerk „Menschen des 20. Jahrhunderts“ Vertreter aller Provenienzen und Professionen ablichtete und damit zugleich seine Wertschätzung gegenüber der fotografischen Kunst im gesellschaftlichen Kontext ausdrückte. „Da ich kein Gelehrter bin“, erklärte Sander, „dem die wissenschaftlichen Hilfsmittel zur Verfügung stehen, bleibt mir die Natur und das Milieu als einziger Lehrmeister. Wenn ich den Versuch unternehme, die Entfaltung des Geistes aus der Natur mit den mir geläufigen Mitteln des Lichtbildners zu verfolgen und darzustellen, so erhielt ich Antrieb und Beschaulichkeit dazu aus dem Erlebnis des Wunderbaren im Werden.“
Kolyla zeigt das Besondere im Alltäglichen
Das Erlebnis des Wunderbaren im Werden: Ähnlich gelingt es Reichart, aus Momentaufnahmen des urbanen Alltags Funken zu schlagen. Deutlich tritt in seinen Fotografien die Eisenacher zugunsten der in ihr lebenden Menschen zurück, gleichwohl bleibt sie präsent. Mal spiegelt sich ein Altbau im chromglitzernden Tank eines Motorrads, auf dem fröhlich grinsend die zweijährige Emmi thront, mal sieht man unscharf den Schriftzug der Kiezkneipe „HeckMeck“, vor der der 81-jährige Horst, Einzelhändler in der Elektrotechnik, freundlich, aber ein wenig müde in die Kamera schaut.
Ob es ein Zufall ist, dass die ernst blickende Hanna, 24-jährige Studentin der Psychologie, das Buch „milk and honey“ von Rupi Kaur in der Hand hält? Immerhin erschien das Erstlingswerk der jungen indischen Schriftstellerin wie Reicharts Bildband im Selbstverlag, weltweit gelobt für eine Einfachheit und Direktheit ihrer Sprache, wie sie auch Reicharts Fotografien auszeichnen.
Man kann sich nicht sattsehen an den 100 Kindern, Jugendlichen, Männern und Frauen, die einen durch 100 Jahre Menschenleben führen. Behutsam, nur auf den ersten Blick beiläufig fotografiert Reichart sie aus leichter Untersicht, entlockt ihnen einen intimen Moment der Nähe, wie er angesichts der Zufallsbegegnung auf der Straße eigentlich gar nicht möglich zu sein scheint. Irgendetwas muss der Fotograf richtig gemacht haben, damit sich ihm die Menschen öffnen und sich ihm so unverstellt zuwenden.
Ein Kunstwerk aus Bild und Text
Wie bei Sander kam es auch bei Reichart zum regen Austausch mit den Porträtierten. Als er ihnen seine Fotografien vorlegte und sie um einen Kommentar bat, entwickelten sich teils intensive Gespräche, aus denen Reichart knappe Passagen auswählte und sie seinen Fotografien hinzufügte. Nicht zuletzt dank dieser Bild-Text-Montage wird das Buch zu weit mehr als nur einer ethnografischen Dokumentation: Reichart glückt ein feinsinniges, subtil und sensibel gewebtes Kunst-Werk, quasi eine comédie humaine aus schwarz-weißen Fotografien als einfühlsames, empathisches „Sittenbild“.
Es ist nichts weniger als der Entwurf einer realen Utopie, der davon zeugt, dass wir am Ende trotz aller Gegensätze, aller Verhärtungen und polarisierender Ansichten immer noch zusammenleben können und unser Miteinander brauchen. Viele Porträtierte erinnern sich an Momente der Trauer und des Zweifels in ihrem Leben, keiner aber blickt zornig oder verbittert nach vorn. Im Gegenteil: „Ich habe das Gefühl“, sagt Hannah, „dass ich mir das ganz schön zurückerkämpft habe, offen zu sein und auch glücklich zu sein und mich selbst zu mögen.“